Narben

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So grotesk diese ganze Situation auch erscheinen mochte, endete das kurze Gespräch, das der Joker und Alice geführt hatten, damit, dass der Unruhestifter die wenigen Zutaten, die sich in den Küchenschränken befunden hatten, zusammengeklaubt und eine schnelle Mahlzeit für sie beide zubereitet hatte, die sie nun in einer, vergleichsweise, äußerst ruhigen Atmosphäre einnahmen.
Die Handlanger des Clowns hatten, lange nachdem der Joker sie aus der Küche geworfen hatte, so schnell sie konnten, die Beine in die Hand genommen und sich vor einiger Zeit aus dem Staub gemacht. Ihren Boss unnötigerweise zu reizen war nie eine gute Idee, das wussten sie.
Nun hatte sich eine beinahe bedrückende Stille über das gesamte Anwesen gelegt, in dem Alice und der Joker, die einzigen lebenden Bewohner waren.
Das kleine Stückchen Mauerwerk, das eingebettet in einer dunklen Gasse, zwischen weiteren leerstehenden Häusern ruhte, lag ein wenig schief im Beton und bot all das, was sich ein Gesetzloser von einem solchen Unterschlupf erhoffen konnte: Ruhe und Anonymität. Zumindest in jenem Maße, in dem man es sich wünschte.
Der Joker machte keinen Hehl aus dem was er war und zeigte jedem stolz, woraus die menschliche Natur wirklich geschnitzt war.
Er versteckte sich nicht vor der Welt; vor den Schaulustigen und sensationsgeilen Menschen.
Aber das Ausführen seiner Visionen, die er den Bewohner Gothams wie eine Schauergeschichte erzählte, erforderten nun einmal einen beinahe asketischen Lebensstil.
Wenn man es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Welt ins blanke Chaos zu stürzen, konnte man sich große Ablenkungen nicht leisten. Man konnte nicht riskieren, dass irgendjemand die ausgeklügelte Pointe eines sorgfältig geplanten Witzes, eher zu Ohren bekam, als es geplant war.
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
So liefen die Dinge nunmal -selbst für einen Mann wie den Joker.
Wobei für den Clown, das eine, das andere keinesfalls ausschloss.
Für ihn war es eine Art Symbiose, zweier, vermeintlich erscheinender, Gegensätze.
Eine Kunstform, die - wie eine schnell missverstimmte, eifersüchtige Ehefrau - seine volle Aufmerksamkeit einforderte. Was ihn, auf holprigen Umweg, zurück, zu seiner ehemaligen Therapeutin führte.

Alice White hatte der Joker nicht eingeplant.
Auf keiner seiner Skizzen, auf keiner seiner Blaupausen, war die Begegnung mit einer Frau vermerkt, die Harmonie und Chaos zugleich war. Die für ihn eine Form der Versuchung darstellte, wie er es, in seinem ganzen Leben, noch nie erlebt hatte.
Ein sündhaft teures Dessert, von dem man genau wusste, dass man es sich besser nicht erlauben sollte, weil es kaum erschwinglich war, doch nicht anders konnte, als dennoch davon zu kosten und die Geschmacksnerven auf eine unbekannte Reise zu schicken; für die es keine Rückfahrkarte gab. Dessen Weg, einmal beschritten, unweigerlich in den Abgrund führte.
Aber was hatte ein Mann, wie der Joker, schon groß zu verlieren?
Jemand, der nichts besaß, außer seinem eigenen komplexen Verstand?
Der sich nichts aus weltlichen Werten machte?
Gar nichts, war die simple Antwort darauf.
Die für ihn nicht von weiterem Wert war, doch für jeden anderen, zerstörerische Ausmaße annehmen konnte.
Jeder, der mit dem Joker in Kontakt kam, verbrannte im Angesicht seiner verzehrenden Leidenschaft für die Anarchie. Jeder, der nur einmal mit seinen Gedanken in Berührung kam, war für sein Lebtag gezeichnet.
Harvey Dent war gezeichnet.
Batman war es.
Und nun auch noch Alice.
Nicht körperlich.
Sie hatte keine offensichtlichen Narben davon getragen. Aber sie hatte seelisch gelitten. Der Joker hatte sie aufgeschnitten, sie seziert, ihr Innerstes erforscht. In ihren Eingeweiden gestochert, darin gewühlt, in der Hoffnung sie zu verstehen; um herauszufinden wie ihr Gehirn tickte.
Warum sie tat, was sie tat.
Warum sie so war, wie sie war.
Warum sie so stark und gleichzeitig so schwach war.
Doch selbst nach all der Zeit, in der er sie, in- und außerhalb der Anstalt, studiert hatte, konnte der Joker nicht behaupten, dass er Alice wirklich verstanden hatte.
Er hatte gesiegt und gleichzeitig verloren.

Und nun saß dieses fleischgewordene Mysterium hier vor ihm, aß mit ihm an seinem Tisch und wirkte gerade so, als gehörte sie genau hier her. Als wäre das hier: der Ort an seiner Seite, ihr rechtmäßiger Platz in der Welt. Als hätte sie jeder Schritt, den sie in ihrem Leben gegangen war, geradewegs zu ihm geführt.
,,Und nun?'', erhob Alice, mit einem Mal, ihre Stimme. Sie tupfte sich mit ihrer weißen Serviette über ihre Lippen und legte sie dann zurück auf ihren Schoß -Manieren hatte sie, das konnte niemand bestreiten. ,,Was haben Sie jetzt mit mir vor? Wohin gedenken Sie soll diese Reise gehen?''
Die Gabel, die der Joker in der rechten Hand hielt, kratzte kurz über das weiße Porzellan, ehe er sie neben seinen Teller ablegte und seinen Kopf in eine nachdenkliche Schieflage legte.
Wohin soll diese Reise gehen?, wiederholte der Joker in Gedanken.
In den Abgrund?
In die Sinnlosigkeit?
In ihr Verderben?
Er konnte es nicht sagen.
Vielleicht wäre er eines Tages dazu in der Lage. Aber nicht heute. Heute konnte er nur entgegnen: ,,Ähh, erst einmal, würde ich sagen, dass du langsam damit anfangen kannst, mich zu duzen, Alice. Wir kennen uns jetzt schon so lange, da würde ich es dir schon fast verübeln, wenn du es nicht tun würdest. Und zweitens: ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung.''
,,Keine Ahnung'', sprach Alice ihm flüsternd nach.
Sie spürte, wie sich ein Knäuel aus blutroter Wut in ihren Gedärmen bildete.
Sie war wirklich wütend auf ihn. So wütend, wie schon lange, auf keinen Menschen mehr. Dieser gewaltige Zorn erschreckte sie selbst. Wie konnte dieser Kerl sich erdreisten, einfach in ihr Leben zu platzen, es derart zu verwüsten, ihr alles zu entreißen und dann nicht zu wissen, was er mit ihr vorhatte.

Ihre Finger zitterten.
Obwohl sie versuchte es vor ihm zu verbergen, bemerkte der Joker es dennoch, was ihm ein heiseres Gackern entlocke.
,,Ich wette, du würdest mir jetzt gerne an die Gurgel springen, nicht wahr, Schätzchen?'', presste der Anarchist, zwischen seinem minder schweren Lachanfall, hervor.
,,Nennen Sie mich nicht Schätzchen!'', gab Alice, kaum beherrscht, zurück.
,,Ah, ah, ah'', schalt sie der Joker sogleich und wackelte, auf seiner Seite des Tisches, mit seinem Zeigefinger vor ihrer Nase herum. Ihm entglitt immer mal wieder die Tatsache, dass sie so vieles gar nicht wahrnehmen konnte. ,,Ich sagte doch, du sollst mich duzen.''
,,Und was ist, wenn ich das nicht will?'', fragte sie trotzig.
Sie wusste, sie benahm sich gerade wie ein kleines Kind und sie fühlte sich auch so hilflos, wie ein solches. Sie konnte ihm nichts entgegen halten. Nichts tun, um irgendeine Form der Kontrolle zurückzuerlangen. Sie konnte sich nur darauf beschränken, seine tükischen Launen zu ertragen und zu hoffen, dabei nicht elendig zu Grunde zu gehen.
,,Dann, Alice'', schnalzte der Joker nun wieder etwas ruhiger. Viel zu ruhig, wenn man sie fragte. ,,Musst du wohl eine kleine Auszeit nehmen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.''
Im ersten Augenblick hörte sie Stuhlbeine knarzten.
Im nächsten lag die Hand des Jokers an ihrem eigenen Handgelenk und hievte sie ruckartig in die Höhe.
Er trug noch immer keine Handschuhe, wodurch sie seine direkte Körperwärme spüren konnte, was jedoch nichts gegen die eisige Kälte ausrichten konnte, die durch ihre eigenen Adern schoss.
,,Nicht'', wisperte Alice, auf halbem Weg, kläglich. ,,Bitte..bitte nicht.''
Bitte sperr mich nicht allein in irgendein Zimmer ein. Ich ertrage es nicht. Die Stille macht mich wahnsinnig. Sie zerreißt mich, sie quält mich und verfolgt mich...
Der Joker hielt inne, drehte sich halb in ihre Richtung herum und kaute, als er den Ausdruck in ihrem Gesicht sah, nachdenklich, auf dem vernarbten Gewebe, in seiner Mundhöhle herum.
Wohin soll diese Reise gehen?, ihre Worte schienen in seiner eigenen Seele widerzuhallen.
Wohin soll sie gehen, Joker?
Sag, wohin willst du mit ihr gehen?

Dorthin, wohin noch keiner mit ihm gegangen war.


DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt