10. In dem ein bisschen gegen Pfosten gefahren wird

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Entspannt lag ich in meinem Zimmer und sah „ein ganzes halbes Jahr". Eher heulte ich beim „ein ganzes halbes Jahr" gucken. Um mich herum hatte sich ein Berg an Taschentüchern gesammelt und ich aß gerade die zweite Packung Schokolade.
Wieso war der Film nur so schön und traurig zugleich?

Abrupt wurde mein Film von Geschrei unterbrochen. Schnell pausierte ich, hievte mich hoch, um zum offenen Fenster zu gelangen. Unten auf der Straße vorm Nachbarhaus, sah ich Lockwood mit seinem Vater. Sein Vater hatte ihn am Kragen gepackt und schrie ihn zornentbrannt an. „Aus dir wird nie was werden!", spuckte er. „Du bist ein Nichts und Alles, was du machst, ist scheiße!" Meine Augen weiteten sich vor Schock.

Ich wusste von den Aggressionsproblemen seines Vaters, doch hatte ich es noch nie so schlimm erlebt. „Wie kann man nur so dumm sein? Da gibt man dir Schmarotzer schon ein Auto und du hast nichts Besseres zu tun, als eine Delle reinzufahren?" Lockwoods Vater schüttelte ihn durch.

Jetzt reichts!

Schnell rannte ich nach unten und auf die Straße und eilte hastig zu ihnen. Erstaunt sah Lockwood mich an. „Gibt's hier ein Problem?", fragte ich ruhig. Wütend drehte sich Mr. Lockwood zu mir. „Was geht dich das an?" Steif blieb ich stehen. Lockwood setzte schon zum Sprechen an, doch ich unterbrach ihn. „Eigentlich wollte ich Xander fragen, ob er mir bei Mathe helfen kann. Ohne ihn bin ich wirklich verloren. Sie wissen doch sicherlich, wie gut Ihr Sohn in diesem Fach ist!"

Mr. Lockwood lockerte seinen Griff um Xanders Kragen und lies ihn schlussendlich mit hochgezogenen Augenbrauen los. „Ihr Sohn ist alles andere als dumm! Wenn sie uns jetzt entschuldigen würden, es ist wirklich wichtig!" Schnell nahm ich Xanders Hand und zog ihn hinter mir her in mein Haus. Mein Kribbeln breitete sich in meiner Hand aus. Seine warme weiche Haut an meiner fühlte sich so intensiv an, obwohl wir nur Händchen hielten. Mr. Lockwood blieb keine Möglichkeit, noch irgendetwas zu sagen, so blieb er nur perplex stehen.

Die Tür schlug ich krachend zu, sodass meine Mutter uns verwirrt ansah. „Xander?", fragte sie irritiert. Sie wusste natürlich genau, dass wir uns eigentlich alles andere als ausstehen konnten. Abrupt ließ ich seine Hand los. „Ehm... er wollte mir bei Englisch helfen!", drehte ich die Ausrede rum. Mathenachhilfe würde meine Mutter mir nicht abkaufen.
Sie wusste natürlich ebenfalls von Mr. Lockwoods Ausbrüchen, dennoch wollte ich Xander nicht vor meiner Mutter bloßstellen. Das wäre vermutlich zu viel gewesen.

„Wir gehen dann mal", sagte ich schnell und zog den bedröppelten Lockwood mit mir in mein Zimmer. Nun waren wir allein. Nur Lockwood und ich.
Diesmal hat er zumindest ein Oberteil an. Klappe Hank.

Unwissend, was ich jetzt tun sollte, stand ich in der Gegend rum. Peinlich berührt starrte ich auf meine hässlichen Vorhänge, die ich schon seit Ewigkeiten abnehmen wollte. „Danke, McFlurry", Lockwood untypisch brachte er nur ein schwaches Lächeln bei meinem Spitznamen zustande.

Lächelnd sah ich ihm zu, wie er sich auf mein Bett setzte. Behutsam setzte ich mich neben ihn. „Willst du darüber reden?" Unschlüssig sah er zu mir. Unsere Blicke verfingen sich. Gold traf auf grün. Die Zeit schien schlagartig anders zu verlaufen.

„Ich... Keine Ahnung. Ich schätze mein Vater war einfach ein bisschen sauer. Das ist normal. Ich bin halt ein bisschen gegen einen Pfosten gefahren." Der aufreißerische Riese neben mir, den nie was aus der Fassung brachte, sah nun einfach auf seine Hände. Mich durchfuhr der Impuls meine Hände auf seine zu legen, doch ich ließ es sein.

„Es ist unfair, dass er dich so anschreit. Du bist immer noch Fahranfänger. Das Auto meiner Mum hat wegen mir auch schon eine Delle! Mach dir da bitte mal keine Gedanken. Meiner Meinung nach sollte er dringend lernen sein Temperament zu zügeln!", sagte ich zornig.

Der Junge neben mir zuckte nur mit den Schultern. „Er ist einfach so." Geschockt sah ich ihn an. „Das heißt noch lange nicht, dass es okay ist, wie er dich behandelt! Das ist es nämlich nicht! Du kannst heute Nacht gerne hierbleiben." Aufmunternd sah ich ihn an, als sein Kopf zu mir herumschnellte.

Verwirrt blickte er zurück. Er war mir unfassbar nah. „Wieso hilfst du mir? Du kannst mich nicht mal leiden!", fragte er verwundert. Etwas in seinem Blick konnte ich nicht einordnen. „Mir ist selbst klar, dass wir nicht die angenehmste zwischenmenschliche Beziehung führen, aber denkst du wirklich, ich lass zu, dass dein Vater dich so anschreit? Ich hatte Angst, dass er dir was tut! Und wenn ich verhindern kann, dass er einen seiner Ausbrüche an dir auslässt, dann mache ich das auch!" Niemand hätte das verdient. Nicht einmal Lockwood.

Sprachlos sah er mich an. Meine Wangen verfärbten sich leicht rot. Es war fast schon unheimlich, dass er mich so ansah. Zum ersten Mal, seit ich mit ihm allein war, wusste er nicht, was er sagen sollte.

„Möchtest du vielleicht meinen Film mit mir weiter schauen?", fragte ich unsicher und griff nach meinem Laptop, um die unangenehme Stille zwischen uns zu beenden. „Gern" Mein Kopf fing Feuer, als ich den Taschentuchberg sah. Unauffällig stand ich auf und warf meine Heul-Überreste schnell in meinen Mülleimer. Ein Grinsen unterdrückend sah er mich an. „So traurig?", lachte er leicht. „Dir wird das Lachen noch vergehen, wenn du auch gleich am Heulen bist", drohte ich ihm und wedelte mit meinem Finger vor seiner Nase rum.

Verteidigend hob er seine Hände. „Ist ja gut" Schnell machte er den Bildschirmschoner weg und betrachtete den Titel. „Ein ganzes halbes Jahr?" Entsetzt starrte ich ihn an. Als ob er nie diesen Film gesehen hat. „Sag mir nicht, dass du eine ‚ein ganzes halbes Jahr' Jungfrau bist!" fragte ich schockiert. „Trotzdem noch weniger Jungfrau als du", lachte er, wobei seine geraden weißen Zähne, mit diesem verdammten leicht schiefen Grinsen, zum Vorschein kamen. Es war nicht das „perfekte" Grinsen und das machte es nur noch unwiderstehlicher.

Schnell warf ich ihn mit einem Kissen ab. Déjà-vu. „Dann lässt du mir keine Wahl, als erneut auf Start zu drücken! Ansonsten kann ich dich nie wieder ansehen ohne traurig zu werden!", rief ich theatralisch und legte mir meine Hand auf die Brust. „Dann beeil dich mal, denn ich werde nie Sex mit dir haben können, wenn du mich immer traurig ansiehst, McFlurry! Da käme ich mir irgendwie dumm vor!"

Finster starrte ich ihn an, während er über seinen eigenen Witz lachte. Vollidiot. „Vergiss es. Wenn ich Sex hätte und dein Gesicht vor mir, käme nämlich ich mir dumm vor!" Diesmal war es ich, die über ihren eigenen Witz lachte und mir innerlich selbstzufrieden auf die Schulter klopfte. Er hob anerkennend eine Augenbraue. „So kenn ich dich, McFlurry. Deine nette Seite war schon fast unheimlich!"

Diesmal fing er das Kissen, bevor es in sein Gesicht knallte.

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