»Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe. Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit. Du hast nie gelernt, dich zu artikulieren. Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit ...« Dag trommelte imaginär in der Luft herum, eh er mit Vincent gemeinsam einstimmte. »Oh-ho-ho, Arschloch!«
Sein Freund lachte, hielt aber zeitgleich seinen Zeigefinger auf den Mund. »Wir müssen leise sein. Meine Eltern.«
»Das war ... wow. Ich will auch sowas.« , flüsterte er, als er freudestrahlend mit Vincent das Haus betrat.
»Auf der Bühne stehen?« Er ging mit Dag hinauf.
»Ja, stell' dir ma' vor, wir zwei in ... der Wuhlheide.«
Vincent schnaufte lachend und flitzte in sein Zimmer. »Das ist schon echt weit weg. Selbst wenn wir's ma' auf eine Bühne schaffen würden, ist das echt ein Traum, der ... kaum realisierbar ist.«
»Die Ärzte haben's auch geschafft.« Dag zog seine Schuhe aus.
»Ja, aber ...« Er dachte über den Werdegang der Band nach. Irgendwie hatte Dag ja Recht. Sobald man dranblieb, wäre es zumindest erfolgswahrscheinlicher, als wenn man nichts tat. Doch dafür müssten sie erst einmal starten. Und ... es lag ja auch im Bereich des Möglichen, das es sich total scheiße anhören würde. Und wieso dachte er jetzt darüber nach, wie geil es in der Tat wäre, im Falle, dass es passen würde und sie tatsächlich eines Tages auf so einer Bühne etwas performen würden?
»Was's los?« Dag stupste ihn an.
»Wär' schon geil.« , sagte er.
»Ja. Oder?«
Beide lächelten sich an. »Wir können ja morgen mal ... anfangen und uns anhör'n, wie wir ...«
»Bringst du mir das dann bei?« Dag nahm die Gitarre in die Hand.
Vincent dachte wiederum an die Ärzte. Mit eigenen Instrumenten auf der Bühne stehen und live performen wäre schon etwas viel Geileres als Playback mit Boygroup Tanz. »Klar. Wir werden rocken.« , sagte er und musste an den Umstand denken, dass Dag nicht ewig bleiben konnte. Doch diese Gegebenheit schob er schnell beiseite. Er hatte ja seine Wünsche, und Blut produzierte er immer wieder neu. Wenn es sein musste, würde er es bis an sein Lebensende durchziehen.
So viel Spaß wie mit Dag hatte er noch nie mit einem Freund gehabt. Sie stimmten überein.
Verschieden, aber irgendwie auch nicht.
Hintereinander gingen sie ins Badezimmer.
Vincent hatte Dag den Vortritt gelassen und fand ihn anschließend vor seinem Bett hockend vor, nachdem er sich selbst bettfertig gemacht hatte. »Was machst du?«
»Ich hab' nur geschaut, ob's noch offen ist.«
»Und?«
Er nickte und ging anschließend zu der Couch rüber. »Is' noch da.«
War er wehmütig? Vermisste er vielleicht ... dieses Loch?
Vincent legte sich in seine Federkiste. »Willst du ... möchtest du ... zurück?«
Dags Kopfschütteln kam schnell. »Nein.«
»Sicher?«
»Ja. Ich bin mir sicher. Ich will da nicht mehr hin.«
Vincent fiel etwas ein. »Du sagtest, ich könnte nicht da rein, weil ich ein Mensch bin. Also ... nur mit dir.«
Dag nickte ein weiteres Mal. »Ja genau.«
»Du ... du bist ein ...« Vincent überlegte, wie er es genannt hatte. »Tagler. Du ... du bist ein Tagler. Kannst du dann überhaupt nachschauen, ob ...?«
Einige Sekunden war er ruhig. »Ja, ich ... ich bin ja nur teils ... menschlich. Dein Blut und dein Wunsch machen mich menschlich, aber ... in mir drin, bin ich halt noch ... ein Monster.«
»Du bist kein Monster Dag.«
»Doch.«
»Nein. Ein Monster ist furchtbar. Angsteinflößend. Das bist du nicht.«
»Ich hab' schon Menschen erschreckt.«
»Ja, weil du ... dir fehlte ein Sinn im Leben. Du hattest sonst nichts zu tun.«
»Aber ...«
»Nein.« , unterbrach er ihn. »Ich weiß, das du kein Monster bist.«
»Danke.« Wie auch schon zuvor ein paar Mal lächelte er Vincent aufgrund seiner Aussage mit voller Wonne an.
Er schien tatsächlich glücklich bei ihm zu sein.
Für einen kurzen Moment musste er an einen Hund aus dem Tierheim denken, der äußerst dankbar danach für ein neues Zuhause war, aber es so zu bewerten wäre fies gewesen. Dag war kein Tier und kein Monster.
Verloren und einsam war er trotzdem gewesen.
Vincent wollte sich nicht ausmalen, wie sein Dasein da unten abgelaufen war. Tag für Tag in dem Dreck und ... dieser Dunkelheit. Er hatte nicht einmal ein Bett besessen. Freunde mit Sicherheit auch nicht. Außer vielleicht diesen Lin von dem er gesprochen hatte. Zumindest ging Vincent mal davon aus. Es konnte doch nicht alles schlecht in Dags Leben gewesen sein.
Er sah zu ihm rüber, wie er sich die Decke über den Körper ausbreitete.
»Ich bin froh, das du ... bei mir reingepurzelt bist.« , sagte er und der Lockenkopf sah ihn an, eh er aufs Neue lächelte.
»Ich auch.« , gab er an, eh sein Gesichtsausdruck erneut anders wurde. »Sind wir ... sind wir ...?« Er stoppte ab.
»Hau raus.« , forderte Vincent ihn auf und setzte sich mehr auf.
Dag tat es ihm gleich und kam ein wenig in die Höhe. »Sind wir ... wirklich Freunde?«
Vincent musste nicht lange überlegen, um eine Antwort zu finden. Auch wenn sie sich erst kurz kannten, wusste er, wie er zu ihm stand. »Ja Dag. Das sind wir.«
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Wir sind wie Brüder von verschiedenen Eltern
FanfictionDurch Zufall purzelt der junge Dag in das Leben von Vincent, der zuvor von einer wahren Freundschaft nur geträumt hatte. Mit ihm ist er jedoch auf Anhieb auf einer Wellenlänge und schnell werden beide unzertrennlich. Dag hilft seinem neuen besten F...