»Was sollen wir tun?« , fragte Dag nicht mal flüsternd, sondern einzig mit seiner Lippen- und Zungenbewegung.
Vincent schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch.
Er hatte keine Ahnung. Sie konnten jetzt schlecht aus ihrem Versteck krabbeln und wieder zurück durch diese Wand laufen.
Weiterhin hierbleiben, war jedoch auch nicht das Wahre.
Die Lamia gab ein brummendes Geräusch von sich und die zwei Jungs schauten zu ihr rüber. Sie saß immer noch in ihrem Schneidersitz, doch hatte sie mittlerweile beide Arme blutig von oben bis unten aufgeschnitten. Es floss eine Menge. Viel zu viel, als es irgendwie hätte möglich sein können.
Ihre Pupillen waren nicht mehr sichtbar. Alles war weiß und sie sprach wie in Trance düstere Worte, die beide nicht verstanden.
Die Jungs wagten, kaum zu atmen.
Dunkles dickes Blut tropfte immer mehr auf den Boden, der urplötzlich zu beben begann, und unangekündigt waren ihre Pupillen wieder sichtbar und sie starrte wie ins Leere. »Es ist vollbracht.« , flüsterte die Lamia wiederkehrend in ihrer normalen Stimmlage.
Die Atmosphäre verdunkelte sich allerdings weiter und in der Ferne vernahm man leises Raunen. Vincent sah zu Dag, um zu sehen, ob er dies auch hörte, doch anhand seiner Mimik schien dem tatsächlich so zu sein.
Ohne Übergang wurde die Umgebung von einem viel zu grellen Licht erfüllt.
Beide hielten sich trotz geschlossener Lider die Augen zu ... bis es ... sich wieder normalisierte. Der Platz, wo vorhin die Lamia gesessen hatte, war leer. Außer ihr Blut und die Kerzen war nichts anderes mehr vorhanden.
»Is' sie weg?« , fragte Dag, immer noch extrem leise.
Vincent sah sich um. »Ich weiß es nicht. Aber ... lass uns abhauen. Entweder haben wir Glück oder nicht.« Er war der Erste, der aus seinem Versteck kam und sich dennoch umsah, eh er Dag mit einem Nicken ein Zeichen gab. »Wir beeilen uns jetzt. Wir schaffen das.«
Sie gingen zu der Wand, die zum Labyrinth führte, und traten vorsichtig hindurch. Dann allerdings gaben sie Gas. Sie rannten durch die kalten, dunklen Gänge. Die Angst trieb sie an. Ihr Atem ging schneller. Ihre Herzen rasten.
Sie warfen keinen Blick zurück und hielten nicht einmal an. Nicht mal, als das Echo ihrer Schritte von den Wänden widerhallte und es sich so anhörte, als würde etwas Großes und Schlängelndes direkt hinter ihnen her gleiten.
Es dauerte, wie gehabt eine halbe Ewigkeit, doch endlich erreichten sie das Ende des letzten Ganges, welcher sie in die Freiheit führte.
Sie stolperten hinaus. Dag fiel hin und begann plötzlich wie verrückt zu lachen, als er sich auf den Rücken legte. »Fuck. Ich dachte, das war's.«
»Keine Zeit zum Ausruhen.« Vincent hielt ihm seine Flosse hin. »Wir müssen weiter. Und wir wissen nicht, wohin die Lamia verschwunden ist.«
Dag ließ sich hochhelfen. »Also wieder über den dicken Brei aus Albträumen und Ekel?«
»So lang' wir nicht wieder schwimmen gehen.«
»Du. Ich hab' keinen Tauchgang versucht.«
»Ja. Und ich will das nicht wiederholen. Am Ende werde ich noch von einem Blutmonster gefressen.« Er tappte voran. »Dieses Mal kein Schnick Schnack Schnuck. Wir laufen rüber, wie Mario über die Lava und dann geht's zu Sel.«
»Wenn wir nicht von der Lamia zerfetzt werden oder im Blut ertrinken.«
»Nicht so negativ. Schau, wie weit wir es geschafft haben.« Vincent sah sich dennoch ein weiteres Mal um. »Wenn wir bei Sel sind und er uns nicht direkt das eigentliche Ziel nennt, verwandle ich ihn in einen Frosch und werfe ihn in den Fluss.«
»Du und welche Zauberkräfte?« , wollte Dag wissen.
»Der hat da genug Bücher. Irgendwo wird sowas drinstehen.«
»Wenn nicht spuckst du Schleimklumpen auf ihn, mein werter Blutegel-Mann.«
»Apropos. Das Blut.«
Dag blieb stehen. »Ja, wir haben jetzt gar kein Blut mitgenommen.«
»Nein, aber ... wir haben ja genügend.«
»Was meinst du?«
»Die Lamia sagte, einer von uns wäre in Kontakt mit ihrem Blut gekommen. Der Fluss besteht nicht aus irgendwelchen Opfern. Es ist ihr Blut.«
»Bist du sicher.«
»Klar. Hab' ich sonst irgendein Blutbad genommen?«
Beide schritten weiter voran. »Vinne.« , gab Dag leise von sich.
»Was denn?«
»Die Lamia hat aber auch gesagt, du ... du wärst markiert.«
»Vielleicht wollte sie uns angst machen.«
»Und wenn nicht?«
»Dann ... keine Ahnung.« Vincent versuchte, den Teil tatsächlich auszublenden. Meist drohten Monster oder gefährliche Wesen im Allgemeinen doch eh nur mit Dingen, um einem Angst einzujagen. »Sie hatte keinen Plan, wo wir waren Dag, sonst hätte sie uns ... ausgesaugt, gehäutet, keine Ahnung. Sie sucht uns am Arsch der Welt, wenn überhaupt.«
»Ich fühl' mich erst sicher, sobald wir ... zu Hause sind.«
Vincent lächelte ihn an, da er seine Welt auch als seine eigene bezeichnet hatte. »Wir haben's fast geschafft. Danach steuern wir auf eine gemeinsame Zukunft an und blicken nie wieder zurück.«
»Eine Zukunft ohne Blutflüsse.« Dags Mundwinkel hoben sich an. »Ich kann's kaum erwarten.«
»Ja. Ich auch.« Vincent schaute auf den Fluss, der vor ihnen lag. »Wenn wir all das überstanden haben, dann wird uns nichts mehr auseinanderbringen können.«
»Auf uns ... und unsere Zukunft.« Dag hielt seine Hand ausgestreckt hin.
»Auf uns.« Sein bester Freund schlug ein. »Dann hüpfen wir ma' rüber.«
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Wir sind wie Brüder von verschiedenen Eltern
FanfictionDurch Zufall purzelt der junge Dag in das Leben von Vincent, der zuvor von einer wahren Freundschaft nur geträumt hatte. Mit ihm ist er jedoch auf Anhieb auf einer Wellenlänge und schnell werden beide unzertrennlich. Dag hilft seinem neuen besten F...