Ein Lied - Richard

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Drei ganze Wochen dauerte es, bis Paul wieder auf die Beine kam und aus dem Krankenhaus entlassen wurde.
Er bekam täglich Eiseninfusionen und seine Blutwerte wurden streng überwacht.
Unter den Ärzten galt er als „medizinisches Wunder". Er war ganz der alte. Die letzte Sorge der Ärzte war gewesen, dass seine Rechte Gehirnhälfte unter den Sauerstoffmangel litt. Diese Hirnregion war dem kreativ-emotionalen Bereich zugeordnet.
Vorerst zeigten sich keine Auffälligkeiten. Doch diese würden sich zum Beispiel beim Gitarre spielen zeigen.
Sollten dort Abweichungen zutage kommen, wäre Pauls Hausarzt und ein Neurologe ins Boot zu holen.
Dies würden wir ganz in Ruhe austesten.

Eine Auflage war Psychotherapie.
Ich holte ihn am Morgen des 06. Augusts 2020 aus der Charité ab.
Sein Arm war noch dünn verbunden, aber heilte bestens ab.
Ich trug seine zwei Reisetaschen, während wir durch den Hintereingang das Krankenhaus verließen.
Sofort schlug uns eine stickig-schwüle Spätsommerluft entgegen.
Zu diese Jahreszeit war es unerträglich heiß und ein extremer Unterschied zum angenehm klimatisierten Krankenhaus.

Es gab noch viel Redebedarf von meiner Seite aus.
Viele offene, ungeklärte Fragen.
Aber damit wollte ich warten, bis Paul sich selber öffnete. Bis er bereit war, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Das hatte keine Priorität.
Juliet versicherte mir, dass mit Paul zu keinem Zeitpunkt etwas sexuelles oder romantisches lief und Paul erzählte mir unter Tränen, wie sehr er unter dieser Anschuldigung litt.
Ich konnte nicht anders, als ihm Glauben zu schenken.
Die Vaterschaft von Elias wurde von Oday anerkannt und der kleine Junge sorgte dafür, dass meine Verfloßene wieder mit Oday anbahnte.
Es sollte mir recht sein.
Denn nach meiner Idealvorstellung hatte jedes Kind es verdient, mit Mama und Papa gemeinsam aufzuwachsen.
Mir war das als kleiner Junge nicht vergönnt gewesen und das hatte mich fürs Leben negativ geprägt.
Ich nahm Juliet die schwere Lüge immer noch übel, aber die Tatsache, dass sie Paul das Leben in letzter Minute, trotz eigener Probleme rettete, machte die Sache wieder wett.

Das Taxi, welches uns zu meinem Apartment bringen sollte, wartete bereits. Der Fahrer winkte uns eilig zu. Er stand im absoluten Halteverbot, im Lieferanteneingang.
Es würde nur noch wenige Minuten dauern, bis ein weiterer LKW anfuhr und seine Lieferung für das riesige Krankenhaus Berlins mit über  3293 Betten auslud.

Paul stand auf der Warteliste für einen Therapieplatz, denn seine dunklen Gedanken waren nicht aus seinem Kopf verschwunden.
Um die Zeit, bis zur ersten Threapiestunde zu überbrücken, schlug ich Paul vor, bei mir zu wohnen.
Zum Schutz. Vor ihm selbst.
Als emotionale Stütze, und damit er zu jeder Zeit jemanden zum reden hatte, wenn er es brauchte.
Er zögerte mit der Entscheidung, vorübergehend Obdach bei mir zu finden, jedoch konnten sowohl ich, als auch Till ihn schlussendlich überzeugen.

Der Taxifahrer stieg aus, nahm mir die Taschen ab und warf sie unsanft in den Kofferraum. Paul nahm auf dem Rücksitz Platz und ich auf dem Beifahrersitz.
Während wir durch die Straßen Berlins fuhren, grübelte ich, ob es wirklich so eine gute Idee war, Paul bei mir aufzunehmen.
Schließlich wusste ich nicht, wie schlimm er tatsächlich angeschlagen war.
Ich kramte mein iPhone aus meiner Hosentasche und schrieb Till: „sind raus."
Die nächste Zeit würde komisch werden, denn viel zu sagen, hatten wir uns immer noch nicht.
Ich war auch noch nicht über die letzten 12 Monate hinweg und die Frage, warum Juliet und Paul sich küssten, blieb noch immer unbeantwortet. Dies trübte meine Stimmung und hinterließ einen minimalen, ganz kleinen Zorn auf Paul.
Aber das war erst einmal egal.
Ich lernte in den letzten Tagen und Wochen, meinen Egoismus hinten an zu stellen.
Denn ein gesunder, fröhlicher Paul war mir lieber, als ein toter.
Egal wie diese Situation erklärt wurde, ich würde sie sie akzeptieren müssen.
Ändern konnte ich es sowieso nicht.

„Wenn es nicht funktioniert, kannst du Paul aufnehmen?" schrieb ich Till. Ich hatte wirklich sehr große Angst, dass es zwischen uns nicht funktionieren würde.

Das Taxi hielt an. Ich zahlte und hinterließ ein großzügiges Trinkgeld von 100€. Wir stiegen aus und der Taxifahrer reichte mir Pauls Reisetaschen, bedankte und verabschiedete sich. Dann fuhr er mit quietschenden Reifen davon.
Wir gingen gemeinsam nach oben und Paul schilderte mir seine Sorge über seine dreckige Wäsche, welche ich ihm direkt nehmen konnte. Er hatte vergessen, dass das Apartment-Hotel, in welchem ich seit der Trennung von Juliet lebte, einen Wäscheservice anbot. Und so lange könnte er meine Kleidung tragen.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war herzerwärmend, ihn kurz glücklich und dankbar zu sehen.
Ich schloss die schwere Tür auf und wir traten ein. Die Tür fiel ins Schloss.
Jetzt waren wir das erste mal so richtig alleine.
Sonst waren immer Ärzte, Pfleger, unsere Kollegen oder andere Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung gewesen. Ich stellte die Taschen neben die Tür und drehte mich zu Paul um.
Wir schauten uns in die Augen.
Nach ein paar Sekunden blickte Paul beschämt zu Boden.
Ich konnte deutlich erkennen, wie er leicht rosa anlief.
Ihm war vermutlich peinlich, dass er nun nicht mehr alleine sein konnte, beziehungsweise durfte.
Ich streckte meine Arme weit aus und bewegte mich einen Schritt auf meinen Bandkollegen zu. Er tat es mir gleich und wir umarmten uns fest.
Eine ganze Weile sagten wir nichts, standen einfach nur da, eng umschlungen.
Ich küsste Paul auf die Schläfe und flüsterte „alles wird gut!"
Er antwortete leise mit einem: „Danke für alles, Richard."

Die Wochen vergingen, in denen wir uns nur auf den Wiederaufbau, die Heilung, unserer Freundschaft konzentrierten.
Bevor Paul vorübergehend bei mir einzog, arbeitete ich fieberhaft an einem Lied für das neue Emigrate Album.
Dieses ließ ich ruhen, damit ich mich voll und ganz auf Paul konzentrieren konnte.
Erst einmal nur wir beide.
Denn wir waren der Ursprung des ganzen Streits gewesen.
Paul hatte fast jede Nacht mit schlimmsten Albträumen zu kämpfen, die nur schleichend besser wurden.
Zum Trotz aller Unsicherheiten am Anfang, schob ich Paul nicht nach ein paar Tagen, wie geplant, zu Till ab.
Wir kamen doch, entgegen meiner Erwartungen, sehr gut miteinander aus.
Wir brauchten uns einander.
Doch über viele Ungereimtheiten sprachen wir noch immer nicht.
Dies sollte sich an diesem Abend ändern.

Wir luden Juliet ein, die mit Paul dennoch ein gutes Verhältnis pflegte.
Besagter Abend hatte sie zusammengeschweißt.
Freundschaftlich.
Und das war völlig in Ordnung für mich.
Es war merkwürdig, Juliets Anwesenheit in meiner Wohnung zu spüren.
An das letzte Mal, als sie hier war, mochte ich garnicht denken.
Insgeheim hoffte ich, dass sie sich nicht mehr richtig daran erinnern konnte.
Wir küssten uns zur Begrüßung auf die Wange und ich versuchte den kleinen Elias, den sie in einer Babyschale mitbrachte, zum lachen zu bringen, indem ich Grimassen zog.
Es war eine wohlige Wärme im Raum zu spüren, und eine tiefe Vertrautheit.
Ich bot Juliet den Platz auf dem Sofa an, an dem wir an einem Abend vor über einem Jahr heiße Küsse austauschten.
Ich war gespannt darauf, was mir Paul und Juliet zu erzählen hatten.

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