„Eine kurze Rückversicherung. Es war okay.
Unsere Gesichter kamen aufeinander zu.
Ich spürte einen kurzen Windstoß seines Atems,
bevor seine Lippen meine berührten.
Ein Blitzschlag durchfuhr mich.
Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig.
Meine Magengeg...
Scheißdreck. Er war weg. Er nahm es mir übel, dass ich eine Nacht alleine sein wollte obwohl er mich brauchte. Was hab ich mir nur dabei gedacht?
Ich rief ihn an. Beim dritten mal ging er zu meinem erstaunen ran. „Ja?" kam es unsicher aus dem Hörer. „Paul? Paul! Verdammt wo steckst du?" rief ich unter Druck in den Hörer. Er flüsterte zurück: „Bitte Richard... Lass mich.." Bevor ich etwas sagen konnte, vervollständigte er seinen Satz mit „Lass mich bitte gehen. Ich kann nicht mehr. Bitte akzeptiert endlich, dass ich selbst entscheide, wann mein Leben endet." Er schniefte, seine Stimme brach und raus kam ein gequältes „Mach's gut Richard!" ehe er auflegte. Einen Moment war ich wie erstarrt, bis ich laut „FUCK!" rief und die Beine in die Hand nahm. Ich rannte mit glasigen Augen und schnellem Puls das Treppenhaus herunter, wobei ich fast einen älteren Herrn die Treppe herunterstieß. Dieser beschwerte sich lautstark. Ich hatte das Gefühl, als würde mein Herz herausspringen. Das Adrenalin pumpte durch meine Venen. Ich rief Till an, während ich so schnell durch die Lobby rannte, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Als Till abhob, schrie ich, ohne auf eine Begrüßung zu warten, in den Hörer: „Till! FUCK, Paul will sich umbringen. Er hat sich gerade verabschiedet! Er ist weg!" „Was-" setzte Till an, doch ich ließ ihn nicht ausreden. „Verdammte Scheiße unternimm was!" Ich legte auf. Schloss von weitem aus der Tiefgarage meinen BMW auf, riss die Tür auf und schmiss mein Handy auf den Beifahrersitz. „FUCK!" brüllte ich, und hörte mein eigenes Echo aus der Tiefgarage widerhallen. Dabei drehte sich eine alte Dame erschrocken herum, die gerade ihre Einkäufe aus dem Kofferraum ihres Bordeauxroten VW Golfes auslud. Elf Minuten. Elf Minuten. Elf Minuten. Bei guter Verkehrslage. Fuck. Wie in Trance raste ich über die Friedrichstraße, um dann auf die B2 Richtung Karl-Liebknecht-Straße abzubiegen. Ich fühlte mich wie in unserem Musikvideo zu „Benzin". Genau so raste ich durch Berlins asphaltierte. Mein Herz explodierte. Neben mir klingelte mein Handy in Dauerschleife. Erst Till. Dann Oliver. Dann Till. Wieder Oliver. Und schließlich Schneider. Kein einziges Mal hob ich ab. Ich musste mich konzentrieren, wenigstens niemanden im Verkehr umzubringen. Ich starrte auf die Uhrzeit in meinem Cockpit hinter dem Lenker. 13 Minuten seit dem Telefonat mit Paul. Seine Einfahrt zur Wohnung war in Sichtweite. Die letzten Meter gab ich noch Gas, stellte meinen Wagen an die Seite, und rannte um mein Leben. Nein, um Pauls Leben. Ich stand im absoluten Halteverbot. Aber auch das war mir egal. In Berlin würde innerhalb von wenigen Minuten eine Politesse für Recht und Ordnung sorgen. Darauf konnte ich mich schonmal einstellen. Ich rannte, und kam vor der Haustür zum stehen. Verschlossen. War ja klar. Ich klingelte bei allen Bewohnern. Wenn ich beim letzten angelangt war, fing ich oben wieder an. Es surrte. Für einen kurzen Moment konnte ich es nicht glauben. Es wunderte mich zutiefst, dass mir tatsächlich jemand aufmachte. Über die Kamera sah man einen schreienden Mann mit zerzausten schwarzen Haaren, weißem Shirt und Karohose. Ich hatte es nicht mehr geschafft, mich aus meinen Schlafsachen zu schälen. Ich wäre auch nackt losgefahren, wenn es die Umstände zugelassen hätten. Vermutlich war es aber auch einfach die Tatsache, dass viele Bewohner wussten, mit wem sie unter einem Dach wohnten. Und so kannte man zwangsläufig auch mich. Nicht in der Verfassung, aber dennoch kannte man mich. Richard Kruspe von Rammstein. Paul Landers von Rammstein. Ich nahm drei der weiß-Beige marmorierten, auf Hochglanz polierte Stufen auf einmal und rief hallend durchs Treppenhaus „Paul, fuck, Paul!" An seiner Wohnungstür im vierten Obergeschoss angekommen, schrie ich noch lauter, klingelte und bollerte mit meiner Faust gegen die Tür. Keine Chance. Es öffnete niemand. 15 Minuten. Vielleicht schaffte ich es noch rechtzeitig. Würde er es überleben? Tränen verließen meine Augenwinkel und bahnten sich den Weg nach unten. Ich sank vor seiner Wohnungstür zusammen und schrie und schluchzte: „Verdammt Paul...!" Auf einmal packte mich die blanke Wut. Wo zum Teufel waren Till und die anderen? Jeder einzelne dieser Kerle wohnte am Prenzlauer Berg. Jeder. Einzelne. Ich hatte die weiteste Anreise und schaffte es trotzdem als erster, einzutreffen? War ihnen Paul wirklich so scheißegal? Ich spürte meinen eigenen Puls. Ich hörte ihn sogar. Der Zorn stieg in mir auf. Ich stand auf, nahm Anlauf und trat mit einem Wutschrei die Tür mit einer Kraft, wie ich sie noch nie zuvor in meinem Leben angewendet habe, ein. Ich stürmte in die Wohnung, durch den Flur ins Schlafzimmer, in die Küche. Nichts. Ich ging zu Boden. Ich hatte versagt. Paul war hier nicht. Ich schreite zum letzten Mal laut „FUCK!" während ich mich heulend an die Wand lehnte. Meine Tränen brannten heiß auf meinen Wangen. Ich blickte verzweifelt auf die Eichenholzkommode. Dort stand ein gerahmtes Bild. Zu sehen waren sechs Männer. Nebeneinander. Sie strahlten Glück aus, obwohl sie so ernst drein schauten. Sie trugen rote Oberteile mit Schwarzen Sakkos. Sie hielten sich die Herzen. Nur der linke, hielt sich die rechte Brust. Als hätte er kein Herz, was noch schlug. Paul.
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Meine Augen füllten sich erneut mit einer Welle von Tränen, die auszubrechen drohte. Mein Blick ließ von dem Bild ab. Bald würden dort nur noch 5 Männer stehen. Nein. Es waren vier. Ohne mich würde es keinen Paul geben. Ich starte auf die Schuhe unter der, an der Wand befestigten Kommode. Ich erstarrte. Es waren Pauls Sneaker, die er sich erst vor wenigen Tagen geholt hatte. Daneben stand eine MCM Ottomar Reisetasche. Auch diese kam mir mehr als bekannt vor. Langsam bewegte ich mich wieder in den sicheren Stand. Er war hier. Aber wo? Ich hatte überall geschaut. Außer im Bad. Ich ging vorsichtigen Schrittes, aus Angst davor, was mich erwarten würde, Richtung Bad. Ich drückte die Klinke langsam hinunter. Ich fing an zittrig zu atmen und das Gefühl von Ohnmacht breitete sich aus. Ich drückte die Tür auf und eine warme Wolke von Wasserdampf kam mir entgegen. Ich sah Paul. Zusammengekauert am Boden vor der Badewanne. Er trug bloß eine Boxershorts und vor seinen Füßen lag ein Messer. Der Wasserdampf kam aus der, hinter seinem Rücken liegenden Badewanne. Es war warmes, nein, heißes Wasser eingelassen. Mir wurde schlagartig klar, was er vorgehabt hatte. Er hätte sich nach seiner, selbst zugefügten Verletzung ins heiße Wasser gesetzt. So würde er durch die geweiteten Blutbahnen schneller verbluten. Es brach mir das Herz, nur daran zu denken. Ich ließ mich auf meine Knie fallen. Ein kurzer Schmerz durchzuckte mich. Unter normalen Umständen hätte ich das meinen Knien niemals angetan. „Paul!" flüsterte ich. „Scheiße, Paul!" Ich hörte Martinshörner und quietschende reifen von draußen näherkommen. „Richard..." er schaute mir in die Augen. Ein tiefer Trauerschein spiegelte sich in seinen Augen. Es tat weh, soviel Schmerz in ihm zu sehen. Seine Augen waren geschwollen. Er war so unschuldig. Unser Sonnenschein. Schwere Schritte rannten ächzend das Treppenhaus hinauf. So unschuldig und verwundbar. Er hatte das nicht verdient. Ich konnte nicht anders. Ich war so heilfroh, dass er sich im letzten Moment umentschieden hatte. Ich atmete langsam ein und legte meine Lippen auf die seine.