Seemann - Paul

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Und dann hat er mich geküsst.
Einfach so.
Ohne Vorwarnung.
Ich stieg aus meiner schwarzen Gedankenhölle auf, Richtung rosa-rote Wolke.
Mein ganzer Körper kribbelte.
All die Anspannung löste sich.
Ich konnte mich fallen lassen.
Und dann war's auch schon wieder vorbei.
Die schönste Sekunde meines Lebens.
Kein Show-Kuss, sondern ein ehrlicher.
Von Herzen.
Für ihn nichts weiter, als ein unbedeutsamer Bruderkuss, voller Freude über meine Lebendigkeit.
Er nahm mich an den Händen und schaute mir in die Augen.
So verweilten wir weitere wenige Sekunden und lauschten dabei die immer näher kommenden, zügigen Schritte der Rettung.
Wir wussten beide, dass das erst einmal die letzte Berührung für lange Zeit werden würde.

April,
Mai,
Juni,
Juli.

So lang verbrachte ich die Zeit in der Einrichtung für psychisch Erkrankte.
Die letzten drei Monate davon freiwillig.
Ich war das erste Mal seit langer Zeit ehrlich und konnte so bestens therapiert werden.
Ich konnte mich darauf einlassen und arbeitete an mir, an meinen Gefühlen und Ängsten. Mit Richard telefonierte ich jeden Tag, genauso mit Till.
Die Jungs kamen mich regelmäßig besuchen und auch Juliet kam oft mit dem kleinen Elias vorbei.
So eine unschuldige Seele inmitten aller ernsten Erwachsenen zu haben, tat mir besonders gut.

Während Zeiten, in denen ich weder Therapie erhielt, noch Besuche empfing, spielte ich wieder Gitarre. Es klappte am besten, wenn niemand zuhörte. So war ich keinerlei Druck ausgesetzt, und Fehler konnte ich mir so besser verzeihen.
Es wurde dennoch nur schleppend besser.

Am 01. August wurde ich entlassen.
Ich wurde von all' meinen Jungs abgeholt und nahmen uns vor, gemeinsam einen schönen Abend zu verbringen.
Wie damals.
Ich freute mich sehr auf dieses Tagesende, denn ich würde endlich wieder in vertrauter Umgebung Richard still und heimlich anhimmeln können.
Ich freute mich auf eine ausgelassene Stimmung.
Und obwohl man bekanntlich ja nicht zu viel hoffen sollte,
Kam es genau so.
Wir saßen in unserer Sitzsack-/Couchgruppe im Haus mit Proberaum und tranken Tequila mit Sekt.
Ich und Richard teilten uns ein Sofa, er saß breitbeinig, ich lag quer auf der Couch. Ich hatte meine Beine auf seinen Schoß gelegt und genoss diesen Körperkontakt, obwohl zwei Schichten Stoff uns trennten.
Ich konnte mich kaum auf etwas anderes konzentrieren.
Es war wir früher. Bevor ich mich unsterblich in unseren Co-Gitarristen verliebte und somit der Ursprung aller Probleme für die Band wurde.
Auf den ersten folgten noch weitere Tequilas.
Die Stimmung wurde gelassener und wir offener.
Ich beichtete meinen Bandkollegen, dass ich Angst hatte, an der Gitarre zu spielen.
Vorallem die Angst zu versagen war sehr präsent.
Überraschenderweise bot mir Oliver, neben Richard, seine uneingeschränkte Unterstützung an.
Oliver hegte seit meinem ersten Versuch, mein Leben ein jähes Ende zu bereiten, einen tiefen Groll auf mich.
Wir trafen uns nun 2x wöchentlich.
1x alle sechs und 1x nur wir Gitarristen und der Bassist.
Es wurde jede Woche besser, und allesamt begegneten mir mit einer Engelsgeduld.
Doch ich war nicht blöd.
Ich merkte die Anspannung unter den Jungs, die von Woche zu Woche stärker wurde.
Sie hatten Sorge, dass ich einen Stillstand erreiche. Dass ich nicht mehr „der Paul" werde, der ich einmal war.
Ich gebe es zu: das Gitarre spielen fiel mir absolut nicht mehr leicht.
Vorher konnte ich, ohne nachzudenken, jedes einzelne Lied, locker aus dem Handgelenk spielen. Es war ein leichtes.
Ich machte nunmal jahrelang nichts anderes.
Jetzt erforderte es meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Und auch dann funktionierte es nur halb so gut, wie erhofft.
Ich machte Fortschritte, wenn auch kleine.

Ich wohnte wieder in meiner eigenen Wohnung.
Richard sicherte mir zu, dass ich Tag und Nacht zu ihm kommen könne, aber das taten die anderen Bandmitglieder schließlich auch.
Bisher musste ich davon keinerlei Gebrauch machen. Ich erhoffte mir, durch den gesunden Abstand zu Richard, meine Gefühle mildern zu können.
Und um ehrlich zu sein, konnte ich seine Wohnung nicht mehr betreten.
Er erzählte uns Anfang Juni, dass er nun eine neue Freundin an seiner Seite hatte. Madeleine.
Auch wenn ich diesen Tag gerne zum Volkstrauertag ernannt hätte, blieb mir nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren.
Irgendwann, so hoffte ich, würde ich meine Gefühle zu Richard ein für alle mal begraben können.
Mich vor ihm, der Wahrheit zu entledigen, war nach wie vor keine Option für mich.

Anfang Oktober berief unser Management uns ein und verkündete uns freudig, dass für 2022 mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wieder Konzerte stattfinden durften.
Die Corona-Bestimmungen wurden bereits gelockert und unser Manager schien zuversichtlich.
Ich war noch lange nicht so weit, weswegen es bei der Band einen faden Beigeschmack hinterließ.
Schlussendlich gaben wir grünes Licht für den Ticketverkauf und die Planung der einzelnen Konzerte, die, wie jedes Jahr, vom späten Frühling bis Sommer gehen sollten.
Das Jahr sollte hart werden, denn wir schuldeten unseren Fans noch die abgesagten Konzerte von zwei Jahren.
Zwei Jahre, die für mich die Hölle waren.
Zwei Jahre unerwiderte Liebe.
Zwei Jahre Depressionen und Angstzustände.
Nun würde ich keine Kapazität mehr für trübe Gedanken haben, denn von nun an wurde jeden Tag geprobt. Zweimal die Woche alle zusammen, fünfmal Olli, Richard und ich.
Manchmal war auch Till oder Schneider dabei.
Juliet kam zweimal die Woche vorbei, um mit mir einen Latte Macchiato zu trinken.
Mittlerweile hatte sie auch einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Sicher ist sicher.
Ihr konnte ich meine Gefühle zu Richard anvertrauen, denn bis heute hatte sie immer dichtgehalten.
Sie erzählte mir viele Dinge aus ihrer Beziehung mit meinem Schwarm, die mittlerweile drei Jahre vorüber war.
Mir meine Last von der Seele zu reden, und mich dabei mit dem 1,5 Jahre alten Elias zu beschäftigen, heilte mich innerlich.
Ich fand in Juliet meine beste Freundin.
Richard hatte nicht so viel Kontakt zu Juliet, wie ich, aber das Verhältnis war immer noch gut genug, um auf Elias alleine aufzupassen.

An einem kalten Dienstag, kurz vor Weihnachten, fand, wie jeden Tag, Probe statt.
Olli war auf einer Kurzreise mit seiner Familie und so trafen Richard und ich uns das erste mal alleine. Dachte ich.
Als es klingelte, machte mein Herz einen Sprung.
Ich öffnete und hörte die Geräusche von schweren Stiefeln, welche erst einmal auf der, im Treppenhaus im Boden eingelassener Fußmatte von matschigem Schnee befreit wurden, ehe sie schweren Schrittes nach oben stiegen.
Als Richard am letzten Treppenabsatz angekommen war, und sich in meine Richtung drehte, sah ich Elias auf seinem Arm.
Er trug einen olivgrünen Schneeanzug und eine hellblaue Mütze mit passendem Schal.
Sein Kniebereich war vom krabbeln im Schnee feucht geworden. Sein Näschen war gerötet, ebenso seine Wangen.
Bei dem Anblick des kleinen Jungens im Arm von Richard ging mir das Herz auf.
„Elias! Was machst du denn bei Onkel Richard?" fragte ich den einjährigen liebevoll, obwohl die Frage für Richard bestimmt war.
„Juliet hat unseren Sonnenschein schon gestern Abend zu mir gebracht, weil sie ein Mädelswochenende geplant hat. Stimmts Elias?"
Elias Augen leuchteten.
„Und sollen wir Onkel Paul mal erzählen, was wir gestern Abend gemacht haben?"
„Ohhh, da bin ich aber gespannt" gab ich ehrlich zu, und streckte meine Arme nach Elias aus, der es mir gleichtat.
„Wir haben uns eingekuschelt, ein Bobo Siebenschläfer-Buch angeschaut und dabei warmen Kakao mit Sahne getrunken." erzählte Richard aus der Sicht von Elias,
Ich nahm ihn in den Arm und schloss die Wohnungstür, als auch Richard eingetreten war.
Sofort befreite ich den kleinen von seiner schweren Wintermontur und zog ihm ein paar dicke Socken an, welche Juliet beim letzten Besuch liegen ließ.
„Kaffee? Tee?" fragte ich Richard.
Elias krabbelte zu einer, extra für ihn zusammengestellten Kiste mit Spielzeug.
„Kaffee, bitte" murmelte Richard, während er Elias nicht aus den Augen ließ.
Ich ging in die Küche und stellte zwei Tassen unter den Ausgabekopf meines Vollautomaten.
„Oh mein Gott, Paul!!!" rief Richard geschockt.
Ich stieß vor schreckt eine Tasse Kaffee um und verbrühte mich am Handrücken.
Ich sprintete in das Wohnzimmer zu Richard und Elias.
Ich sah Richard in einer halben Hocke, die Arme ausgebreitet. Zwei Meter vor ihm wackelte Elias freilaufend auf ihn zu. In seiner kleinen Hand hielt er ein Lego Duplo Boot mit einem Seemann.
Mir blieb die Kinnlade offen stehen.
Auch Richard war sprachlos, aber von stolz gezeichnet.
Der 1,5-jährige ließ sich bisher mit dem laufen viel Zeit und trieb seine Mutter dadurch in den Wahnsinn, vor lauter Sorge, mit ihm könne etwas nicht stimmen.
Richard grinste über beide Ohren, und als er mich ansah, blickte ich in seine Augen, mit Freudentränen gefüllt.

Paulchard - Mein Herz brennt! Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt