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Während meine Schwester mich festhielt traf mich der Gedanke, dass sie eventuell noch gar nicht wusste, dass Maggie tot war.

Oder Liz.

Augenblicklich verkrampfte sich alles in mir, die Tränen versiegten. Als legte jemand einen Schalter um, hörte ich sofort auf zu weinen, obwohl der Kloß in meiner Kehle immer größer und größer wurde.

Doch die Narben, die das Feuer hinterließen, wurden immer schmerzhafter, je länger die Tränen stoppten.

Sofort legte sich eine unheimliche Stille über mich, hüllte mich in einen wärmenden Mantel.

Der Druck auf meiner Brust verpuffte, die Trauer schnürte sich heimlich und leise über meine Brust, verkettete sich mit meinem Herzen.

Automatisch wusste ich, dass sie mich von jetzt an nie wieder los ließ.

Schniefend wich ich zurück, wobei einige innere Wunden wieder aufrissen. Beinahe konnte ich das Aufspringen der Haut hören. Fühlte, wie erneut das brennende Blut floss...

"Es ist alles gut, ja?", sagte Michelle sanft und strich mit ihren Fingern vorsichtig ein paar Tränen von meiner Wange.

Ich nickte.

Und holte rasselnd Luft.

"Liz ist tot", murmelte ich. Sofort stiegen wieder die Bilder vor meinen Augen auf; Liz' toter Körper, die Augen überrascht aufgerissen, so als hätte sie niemals gedacht, dass derjenige zu so etwas in der Lage war. Zu meiner größten Überraschung nickte sie traurig lächelnd. "Ich weiß. Sam hat gerade angerufen." Erschrocken blickte ich sie an.

Bitte was?

"Er macht sich Sorgen um dich."

Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. "Momentan ist alles etwas... unwirklich und falsch, ich weiß." Ihre Stimme klang warm und führsorglich. Wie die meiner Mama immer geklungen hatte. "Ich sehe doch, dass du... mit damals noch nicht abgeschlossen hast, Rosa", wisperte sie und blickte mich eindringlich an.

In mir drin verdrehte sich alles.

Wieso war das Schicksal eigentlich immer so fies? Es dachte sich ja regelrecht, dass ich nicht schon genug Probleme besaß.

Krampfhaft versuchte ich, irgendwie den Kloß in meinem Hals runter zu schlucken. Versuchte, die Krämpfe, die Michelles Worte in mir auslösten, irgendwie zu beseitigen. Doch es ging nicht. Erst als mir bewusst wurde, dass ich dies bezüglich kläglich versagte, stieg beißender Frust in meinen Adern hoch.

Und sofort begann die Welt sich noch mehr zu drehen.

In tausende kleine Teilchen zu zerspringen.

Und in ihren Farben zu zerlaufen.

"Du kannst nicht ewig davor weglaufen. Besonders jetzt nicht."

Erneut bahnten sich Tränen an. Dieses Gespräch nahm eine ganz negative Wendung und ich wusste, dass ich gleich nur noch mehr heulte. Dass all die Schwüre von Damals langsam aber sicher genauso starben wie ich.

"Du musst dich deiner Vergangenheit stellen, Rosa, um mit der Realität klar zu kommen. Ganz egal, wie schmerzhaft das ist."

*

Als ich vier Jahre alt war, hatte mein Papa mir ein Märchenbuch geschenkt. Es war nichts Besonderes, aber trotzdem liebte ich es, je öfter ich eine Seite weiter blätterte, in den Duft der neu gedruckten Zeilen tauchte und die bunten Bilder betrachtete. Jeden Abend musste er mir daraus vorlesen, bis ich einschlief und von Dornröschen träumte.

Schattengier - Würdest du aus Liebe töten?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt