Schweigend saßen wir also nebeneinander auf meinem Bett.
Für einige Sekunden stand die Zeit still, für einige Sekunden war es wie in alten Zeiten.
Die Stille war beruhigend.
Atemberaubend.
Irgendwie fühlte ich mich in ihrer Gegenwart wohl. Geborgen.
Die Panik war weg. Die Wut auf Michelle verraucht. Alles kam mir in diesem klitzekleinen Moment vollkommen in Ordnung und grade vor.
Wären da nicht die Bilder gewesen, die unaufhörlich auf mich einströmten, sobald Maya meine Hand nahm und sie fest drückte. Willkürlich prasselten Erinnerungen aus meiner Kindheit auf mich ein; Maya und ich beim Eis essen, wir in der Schule, beim Shoppen, zusammen mit Maggie. Ich sah einen Brief vor mir, Mayas erster Liebesbrief, den sie mir freudestrahlend unter die Nase gehalten hatte. Ich spürte ihr Lächeln auf meinen Schultern. Und dann standen wir plötzlich in der Kleiderabteilung von C&A und ich drehte mich einmal um mich selbst, dieses grässliche schwarze Kleid flog um meinen Körper herum und Maya stand hinter mir und blickte mich mit großen Augen an, während pure Freude durch meine Adern schoss und das Adrenalin meine Wangen erhitzte.
"Du siehst wunderschön aus, Rosa", sagte sie und starrte mich an. "Du musst es kaufen! Sam wird tot umfallen, wenn er dich so sieht!" Obwohl mich ihre Worte etwas erröten ließen, schlich sich leichte Skepsis durch meinen Körper und heftete sich in mein Herz.
Mein Abbild war die Ruhe selbst, war nur damit beschäftigt, ob es das Kleid kaufen sollte oder lieber nicht.
Doch in mir drin tobte plötzlich ein Kampf von zwei Seelen.
Die eine gehörte zu diesem Mädchen vor dem Spiegel, die andere war ein komplett anderer Mensch.
„Ja, weil es so grässlich ist!", durchschnitt meine Stimme in aller Seelenruhe den Raum, während Maya nur lachte.
Zusammen mit diesem Körper.
Während Glück und Freude durch mich hindurchrasten wie die Autos bei einem Formel-1-Rennen, baute sich in meiner Seele ein merkwürdiger Wiederstand auf. Das hier waren genau wir, zwei Stunden, bevor Maya starb. Bevor das Auto in sie hinein fuhr und sie aus dem Leben riss. Plötzlich durchzuckte mich ein grottiger Gedanke.
Was, wenn es etwas mit ihrem Tod zu tun hatte, dass ich sie sah?
Und während mich diese Erkenntnis traf wie ein Fußball, drehte sich mein alter Körper wieder zu meiner besten Freundin um und zog skeptisch eine Augenbraue hoch. "Rosa. Ich kenne diesen Blick. Keine Wiederrede! Du wirst dir verdammt noch mal dieses Kleid kaufen." Willkürlich stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Verdammt, wie konnte sie bloß so optimistisch bleiben? "Maya... es ist grässlich! Sieh doch mal. Es hängt an mir herunter wie ein nasser Sack... Außerdem ist es schwarz. Wir gehen doch nicht auf eine Beerdigung!" Fast schon grimmig stapfte sie auf mich zu, legte mir einen Arm um die Schultern und drehte mich zum Spiegel um. Meine blonden Haare vermischten sich mit ihren langen dunklen, sodass es aussah wie ein Marmorkuchen, der da auf meinem Kleid prangte. "Du wirst dir dieses Kleid kaufen, verdammt noch mal. Sam wird dich so umwerfend finden, dass er auf der Stelle ohnmächtig werden wird." Ergeben seufzte ich. Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Sie würde nicht eher aus diesem Laden rausgehen, bis sich dieses Kleid in eine meiner Einkaufstüten befand. Bei ihrem so energischen Ton schwoll mein Herz automatisch an und machte mir bewusst, wie sehr ich sie vermisste.
Wie sehr ihr Verlust noch immer an mir nagte...
"Rosa? Rosa!"
Erschrocken fuhr ich zusammen und blickte mich um. Die Stimme hallte in meinem Kopf wieder und warf sich wie ein Pingpong immer wieder zwischen meinen Schädelwänden hin und her. Woher kam bloß dieser grässliche Laut? Verdammt, merkte denn keiner, wie sehr ich bei Maya bleiben wollte? Wie sehr ich genau jetzt den Rat meiner besten Freundin brauchte? Urplötzlich fiel ich.
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Schattengier - Würdest du aus Liebe töten?
ParanormalAls Rosa nach dem Tod ihrer Eltern zurück in ihr Heimatdorf zieht, hätte sie nie gedacht, dass dies einen Wirbelwind der Gefühle und Erinnerungen mit sich bringt, allesamt schlecht und schmerzend. Der einzige Grund, wegen dem sie sich nicht von treu...