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Meine Finger zitterten, als ich die Klinke meiner Zimmertür runterdrückte und mit dem Test in der Hand zurück in mein kleines Reich trat. Meine Schwester hockte noch immer auf dem Boden, die Nase in Adams Buch vertieft und runzelte hoch konzentriert die Stirn.

Innerlich flog in mir alles umher, es herrschte ein Wirbelsturm der Emotionen in mir. Einerseits war da Angst, die sich krampfhaft versuchte, an einem Baum festzuhalten, um nicht vom Wind der Panik weggerissen zu werden. Andererseits war es Hilflosigkeit, die schon in den nicht aufhörenden Strudel gerissen wurde, zusammen mit Nervosität und Anspannung. Adrenalin sprintete über irgendwelche Straßen meines Körpers, um Angst zu helfen. Ich befürchtete, dass es niemals ankam.

Ein lautes Piepsen ließ mich zusammenzucken. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, drohte, gleich aus meinem Brustkorb zu springen. Der Atem blieb zitternd in irgendwelchen Winkeln meiner Kehle stecken. Panisch schaute ich auf den Test in meiner Hand, doch der war unverändert. Noch.

Erleichtert drehte ich mich zur Kommode und angelte nach meinem Handy. Tatsächlich! Eine Nachricht von Sam. Gespannt öffnete ich seine SMS, in der stand, dass Adam ihn heute Abend zu sich einlud. Doch ich besaß nun wirklich nicht die Zeit und vor allem nicht den Nerv dafür, auf sein Gejammer zu reagieren.

„Also für mich", riss Michelle mich aus meinen Gedanken und schaffte es, mich etwas von meinem inneren Sturm abzulenken, „sieht das hier ganz nach einer MPS aus." Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Wie bitte? Was ist das denn jetzt?" Langsam schlängelte ich mich durch das Chaos auf meinem Boden, um Michelle zu erreichen. „MPS steht für 'Multiple Persönlichkeitsstörung'", murmelte sie und blätterte hastig durch das Buch. Offensichtlich verspürte sie dabei keinerlei Angst, die Seiten zu zerbrechen. Seufzend ließ ich mich neben sie sinken. „Und was passiert da?" Mit ihren kullerrunden blauen Augen blickte sie mich wissend an.

„Meistens wird diese Krankheit durch verstörende, beziehungsweise traumatisierende Ereignisse in der Kindheit ausgelöst", fing sie an und trommelte mit ihren Finger auf dem Buch herum. „Dabei entwickelt man, sagen wir mal, verschieden Rollen. Wie bei einem Theaterstück. Nur, dass man diese Charaktere selbst spielt."

Augenblicklich legte sich eine merkwürdige Ruhe über mich und erstickte den Panikwind in meinem Innern. „Ich vermute mal, dass Adam nur eine Persönlichkeit von Todd Marshall ist", fuhr sie unbeirrt fort. In meinem Kopf herrschte absolute Verwirrung und eine leichte Kälte wanderte über meine Haut, überzog sie mit einem Schaudern. Ergeben seufzte ich. „Ich blicke da wirklich nicht durch", murmelte ich. „Also erschafft man quasi eine neue Figur?"

„Kann man so sagen", meinte meine Schwester und sah nun ziemlich ernst aus. „Todd muss irgendetwas sehr schlimmes in seiner Kindheit erlebt haben, sonst hätte er keine andere Persönlichkeit entwickelt. Man vermutet, dass diese, nennen wir sie mal Rollen, helfen sollen, sich an verschiedene Umwelt- beziehungsweise Lebensbedienungen anzupassen."

„Wie kommst du darauf, dass Adam Todd ist?", platzte ich heraus und presste mich gegen sie, um einen Blick auf das Buch zu erhaschen. Dabei fühlte ich mich eigenartig überfordert. Michelle blätterte einige Seiten um. „Schau", wisperte sie andächtig. „Adam schreibt hier, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, er zu sein. Er schreibt, dass er noch nicht mal weiß, wer beziehungsweise wann er diesen Text geschrieben hat. Dass das Buch in dem Regal von Todds Eltern stand. Und ihm somit gehört."

Ihre Stimme nahm einen merkwürdigen Ton an. Sie schien wirklich voll auf begeistert zu sein, in Adams Tagebuch zu schnüffeln. In meiner Brust machte sich ein seltsames Flattern bemerkbar. So voller Leben habe ich sie absolut noch nie erlebt. Unwiderruflich durchströmte mich eine unbändige Wärme und ein leichtes Lächeln legte sich auf meine Lippen.

Schattengier - Würdest du aus Liebe töten?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt