-39- ➳ Die Abendveranstaltung

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Am liebsten würde ich einfach schlafen und nie wieder aufwachen. Doch beides war nicht möglich.

An Schlaf war auch die restliche Nacht nicht zu denken und meine wenigen Dämmerzustände wurden nie mit der unendlichen Ruhe gesegnet, sondern mit der Gewissheit, dass heute Abend sehr viel schief gehen könnte, zerstört.

Ich war bereits wach, als ich hörte, wie Mum aufstand, ihren Kopf vorsichtig in unser Zimmer steckte und überrascht die Augenbrauen hochzog, als sie sah, dass ich nicht schlief.

Sie fragte mich, warum ich nicht schlafen konnte und als ich nur die Abendveranstaltung erwähnte, versuchte sie mich damit zu beruhigen, dass es heute ein ganz normaler Arbeitstag werden würde und ich mir deswegen keine Gedanken machen sollte.

Als sie dies sagte, hätte ich vor Qual aufschreien können. Weder war dieser Tag ganz normal, noch könnte ich mir keine Sorgen machen. Doch ich nickte nur und bejahte, auf ihre Frage, ob ich heute Mittag für das Essen sorgen könnte.

Dies tat ich dann schließlich auch.
Ich musste erst gegen 15 Uhr bei Margarete erscheinen, sodass ich den Vormittag damit verbringen konnte auf dem Markt zu Rina und Pietro zu besuchen und günstig einen kleinen Sack Reis ergattern konnte.

Danach war ich damit beschäftigt diesen so zu kochen, dass er einigermaßen genießbar war und nicht so trocken wurde, dass man davon einen Hustanfall bekam.
Mein Schicksal meinte es wohl gut mit mir, denn weder Clovy noch Sam beschwerten sich und aßen brav alles bis auf das letzte Körnchen auf.

Danach war es bereits Zeit für mich, mich fertig zu machen.
Aber erst als ich in unserer kleinen Wanne kniete und meine Haare ausnahmsweise mit dem guten Shampoo behandelte, wurde mir klar, was mich gleich erwarten würde.

Prunk und Luxus.
Hoch angesehene Leute.
Niall und seine Aufgabe.

Es würde die reinste Folter für meine Nerven werden, ich durfte mir bloß keinen einzigen Fehler erlauben, sonst wäre wirklich alles, wofür ich jemals geschuftet habe, weg.

Seufzend stand ich langsam auf, nachdem ich meine Haare ausgespült hatte, und trocknete mich ab. Als ich dann in meine Anziehsachen schlüpfte und mein Flanellhemd zuknüpfte, zitterten meine Hände. Ich versuchte mich zu konzentrieren und wieder die Kontrolle über meinen Körper zu bekommen.
Plötzlich klopfte es gegen die Tür und erschrocken zuckte ich zusammen.
Ich war ein einziges nervliches Wrack.
„Ja?" krächzte ich.
„Du musst dich beeilen, Sophia. Hast du nicht gesagt, dass du um 15 Uhr da sein musst? Das ist in einer halben Stunde..."

Sam entfernte sich wieder von der Tür und mein Blick huschte zu dem fast blinden Spiegel, der über unserer Wange hing. Meine Haare hingen mir in nassen Strähnen bis auf meine Brust, drückten sich platt gegen meine Wangen und ließen meine Haut durch den dunklen braun Ton nur noch blasser erscheinen. Ich hatte tiefschwarze Augenringe und meine Lippen waren fast schon blau. Ich sah wie eine Leiche aus.
Stöhnend rubbelte ich mir meine Haare mit einem Handtuch soweit es ging trocken und band sie mir dann locker im Nacken zusammen. Mit einem letzten Blick in mein geisterhaftes Gesicht schlüpfte ich durch die Badezimmertür und suchte meine restlichen Sachen zusammen. Ich musste wohl oder übel darauf hoffen, dass Leo sich auch noch dazu bereit erklären ließ, mein Makeup zu übernehmen...

Zwar war ich schon mehr als spät dran, als ich schließlich in meine Stiefel schlüpfte und meine Jacke vom Nagel nahm, doch ich konnte nicht aus unserer kleinen Wohnung verschwinden, ohne mich vorher von meinen kleinen Geschwistern zu verabschieden.
Ich fand die beiden auf dem Bett liegend vor. Sam war gerade dabei, Clovy eine Geschichte zu erzählen und für einen kurzen Moment stand ich nur im Türrahmen und lauschte den beiden.

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