-19- ➳ Sprachlosigkeit

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich ungewohnt schwer. Und ich brauchte einen Moment um zu kapieren, dass es das Essen war, das unangenehm im Magen lag. Das Essen von Syra.
Denn als Leo und ich bei ihrer Schwester ankamen, hatte diese schon mindestens vier verschiedene Töpfe auf dem Herd stehen und war bester Laune. Wir hatten Musik gehört und der Vorfall vom letzten Besuch wurde mit keiner Silbe erwähnt. Syra hatte die ganze Zeit zu den Liedern mitgesungen, während sie mit einem Rührstab im Kartoffelbrei und dann in den Erbsen herumrührte und hatte spaßig gemeint, dass ihr Kind musikalisch werden sollte.

Syras Ehemann Bryan war ein freundlicher Mann mit braunem Haar und Bart. Er erzählte uns während dem Essen im Esszimmer mit freudig strahlenden Augen, dass er zusammen mit seinem Freund das Kinderbett fertig getischlert hat und sofort hatten Leo und ich unsere Hilfe zum Anstreichen dieser angeboten. Doch davon wollten die beiden werdenden Eltern nichts wissen.

Es schien als wäre ich in einer anderen Welt. Für diesen Abend schienen meine Sorgen ganz weit weg und ich konnte ausgelassen über Bryans Begeisterung lachen. Der Tisch war groß genug um gemütlich sitzen zu bleiben und das Zimmer war hell erleuchtet gewesen. Ganz anders als wenn wir so schnell wie möglich in unserer tristen Wohnung aßen.

Schnell war es spät geworden und Syra hatte mir noch die Reste vom Essen wortlos in die Hand gedrückt mit den Worten, dass sie sich freuen würden, mich bald wieder zu sehen. Ich jedoch konnte nur mit einem Kloß in meinem Hals nicken.
Denn das Essen, ein Festmahl bestehend aus Gemüse, Hackbraten, Soße und Kartoffelbrei, musste ein Monatsgehalt für jemanden wie mich bedeuten. So etwas gab es noch nicht einmal zum Geburtstag oder Weihnachten. Und Syra gab es mir einfach ohne ein Wort mit. So als wüsste sie über meine Situation Bescheid, wollte dieses Thema mir zu Liebe aber umgehen. Und dafür war ich ihr dankbar.

Kurz vor Mitternacht hatte ich dann Mum und meinen Geschwistern dabei zugeschaut, wie sie ehrfürchtig den vollgeladenen Teller vor sich betrachteten. Jeder von ihnen ging anders damit um. Während Sam das Essen in sich hineinschob als gäbe es keinen Morgen mehr, aß Mum wie ein Spatz und warf mir zwischen jeder weiteren Gabel einen Blick zu. Ich wusste, dass das ihre Art des Dankens in dieser Situation war. Mum packte die übrigen Reste in unseren kleinen Kühler, den wir nur bei besonderen Sachen anmachten, um Strom zu sparen. Dies tat sie mit den Worten, dass das unser Vater sicherlich auch probieren wollte.

Und ab da war der Knoten in meinem Magen wieder da.

„Sophia... Schatz?" Mum streckte ihren Kopf in unser Zimmer und runzelte die Stirn, als sie mich noch im Bett liegen sah. „Geht es dir nicht gut?"
„Nur zu viel gestern gegessen." Meinte ich und schwang mich sofort aus dem Bett. Der Braten lag mir wirklich noch schwer im Magen.

Mum sah mich noch einmal prüfend an, während sie an ihren dünnen Haaren herumfummelte, um sie irgendwie in einem vernünftigen Zopf zu bekommen. Wortlos trat ich hinter ihr und machte ihr einen richtigen Dutt.
„Ich wollte nur sagen, dass ich heute Abend etwas früher komme und dann schon kochen kann. Machst du Clovy schon einmal fertig? Die Reste vom Brot und von der Marmelade stehen auf dem Tisch. Ich muss jetzt los, um Anne von der Nachtschicht ablösen."
Sie schenkte mir noch ein schwaches Lächeln, bevor sie die Wohnung verließ und mich mit meinem Geschwistern so wie immer alleine ließ.

Doch es war okay.

Justice verzog wie immer grimmig das Gesicht, als Margarete benachrichtigt wurde, dass ich dem werten Mr. Payne Junior und seinem Gast Danielle Peazer Tee und Gebäck bringen sollte. Margarete sah mich nur seufzend und kopfschüttelnd an und während wir zusammen das Tablett herrichteten meinte sie plötzlich an mich gerichtet: „Sophia, wie machst du das nur?"

Verwirrt sah ich sie an, doch dann kapierte ich, dass sie darüber nachdachte, warum Liam immer nach mir rief. Ich lief rot bei dem Gedanken an, dass sie vielleicht denken könnte, dass ich die Regeln brechen würde und machte mich dann so schnell es ging mit dem Tablett in der Hand zu Liam auf. Hoffentlich gingen Margaretes Überlegungen nicht in diese Richtung. Denn das würde sicherlich nur noch mehr Ärger bedeuten.
Als ich durch die Flure schritt drängte sich die Erinnerung von gestern und Liams Fürsorglichkeit wieder in meine Gedanken, die mir immer noch nicht verständlich wurde.

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