Und um die ganze Situation noch zu verschlimmern, kam er nun direkt in meine Richtung. Ich war zwar dünn, in schlichten Farben gekleidet und hinter einem Verkehrsschild, aber er würde mich zweifelslos sehen und wenn er mich schon sah, soll er mich nicht in dieser Kauerhaltung sehen. Also kam ich hinter dem Schild hervor, schüttelte mir die langen Haare ins Gesicht und hoffte inbrünstig, dass er mich nicht erkannte.
„Hey", sagte er. Seine Stimme war rau. „Ich kenne dich doch."
Nein, du kennst mich nicht, wollte ich schreien. Ich hab dich nur geküsst, das ist alles! Aber ich konnte nicht, blieb nur stumm stehen und nickte knapp.
Er blickte mich schief an und ein Lächeln verzog seine Lippen. „Du bist das Mädchen von gestern", bemerkte er, als sei mir das nicht auch schon aufgefallen. „Ganz schön mutig."
Ich wurde knallrot und stammelte: „Ich, äh, war ein wenig betrunken." Ich wollte mich nicht mit ihm unterhalten! Wieso sprach er überhaupt mit mir? Ich an seiner Stelle würde ange-widert weitergehen.
„Ich find das cool", meinte der Typ dann und grinste breiter. „Wer sagt denn, der Mann müsse den ersten Schritt machen?"
Oh nein, das entwickelte sich in eine völlig falsche Richtung! Er unterhielt sich nett mit mir, und das war ganz und gar nicht gut – man könnte sogar sagen, er sei nahe dran, zu flirten!
„Äh, meine Eltern", murmelte ich leise als Antwort auf seine rhetorische Frage.
„Wie bitte?"
„Nichts", beeilte ich mich zu sagen. Ich verhielt mich echt bescheuert, wenn ich einen Kater hatte. Hastig lächelte ich und sah ihn das erste Mal richtig an. Er hatte hellbraune Augen, das sich schön mit dem dunklen Haar schnitt und schlanke Gesichtszüge. Naja, immerhin hatte ich ein gutes Händchen gehabt, dachte ich mir und sagte dann etwas lauter. „Das dachte ich mir eben auch. Als Frau kann man auch mal forsch sein, stimmt's?" Ich lachte etwas zu laut, aber das schien ich nicht zu stören, denn er lachte mit.
„Ich bin Till", sagte er dann und hielt mir förmlich die Hand hin. „Und wie heisst du? Wir hatten ja gestern so viel Zeit zum Reden."
Zögerlich ergriff ich seine Hand. „Ich heisse Malia." Ich wusste echt nicht, ob mir die Kon-versation mit ihm gefiel. Aber ich wollte ihn sicher schon mal nicht abschreiben – wie Lona gern ihr Motto deklarierte: Flirten kann man mit jedem! Und ich wolle mich ja etwas mehr an sie halten, damit ich nicht als Nonne endete. Ausserdem hatte sie Recht. Till flirtete be-stimmt auch mit jedem und würde auch bei mir keine Ausnahme machen. Überhaupt flirte-ten die Jungs erst, und entwickelten erst danach Gefühle, deshalb war nichts falsch daran, ebenfalls zu kokettieren. Ich merkte amüsiert, wie ich immer mehr in Lonas Denkweise rutschte. Das war ja leicht! Bloss einmal eine Wette machen! Ich gab mir Mühe, nicht aufzulachen und fokussierte mich wieder auf die Gegenwart – auf Till. Und auf seine Hand, die echt warm war.
„Ein schöner Name", meinte er und nahm seine Hand zurück.
Ich lächelte und verdrängte meine Kopfschmerzen. „Danke." Dann deutete ich um mich, darauf bedacht, das Verkehrsschild nicht zu beachten und nicht so auszusehen, als könnte ich mich jeden Moment übergeben. „Was machst du eigentlich hier? Hast du keine Schule?" Gleichzeitig hätte ich mich schlagen können. Bestimmt würde er zurückfragen, wieso ich nicht in der Schule war! Und dann müsste ich gestehen, dass ich wegen einem Kater schwänzte. Angespannt wartete ich auf seine Antwort.
Aber Till warf mir einen verschmitzten Blick zu. „Ich schwänze Mathe. Und naja, ich bin auf dem Weg zu einem Kollegen."
Aha, er schwänzte also. „Na dann", meinte ich gespielt locker und atmete tief ein. „Ich will dich nicht aufhalten." Wenn er noch länger hier rumstand würde die Frage danach, was ich hier tat, unvermeidlich. Und das durfte nicht gestehen. Keiner durfte das wissen, sonst kam es irgendwann meinen Eltern zu Ohren.
Till lächelte ein letztes Mal. „Ach, manche Hindernisse sind ganz gut auf dem Weg", be-merkte er zweideutig und ich wurde wieder rot. Aber glücklicherweise trat er ein paar Schritte zurück und schien im Begriff, tatsächlich weiterzugehen.
„Man sieht sich", meinte er und hob die Hand zum Abschied.
Oh ja, das hatte ich gemerkt. „Bestimmt", sagte ich fröhlich und hob ebenfalls meine Hand. Dann drehte er sich um und ging gemütlichen Schrittes weiter. Ich atmete einmal tief ein und aus. Das kommt schon gut, redete ich mir ein. Meine Eltern werden nichts erfahren und auch sonst keiner. Till war nur eine Bekanntschaft auf dem Weg zur Apotheke. Schnell ging ich die letzten paar Schritte zur Apotheke und war unendlich erleichtert, dass ausser den Verkäufern niemand drin war. Auch als ich mit dem Aspirin auf dem Weg nach Hause war, schaute ich strikt auf mein Handy, das ich dabei hatte, damit ich ausser meinen Jeans, dem Boden und dem Display nichts sah und eilte so schnell den Weg zurück, wie meine Beschwerden es zuliessen. Noch mehr Leute zu treffen gehörte echt nicht zu meinen Vorhaben heute.
Kaum war ich im Haus, vibrierte mein Handy und Lona schrieb zurück, dass sie in der Schule alles geregelt hatte. Beruhigt setzte ich mich wieder in mein Bett und bedankte mich mit einer Menge Herzen bei ihr. Es verging kaum eine Sekunde, als mein Bruder mir eine SMS schrieb.
„Was war heute los mit dir?", kam die befürchtete Frage.
Natürlich roch mein 20-jähriger Bruder Theo – der eigentlich Theodor hiess - um einiges mehr als meine Mutter. Ich biss mir auf die Lippe, zweifelnd, was ich sagen sollte. Konnte ich wenigstens ihm die Wahrheit sagen? Vielleicht hatte er nicht so viel dagegen, wie meine Eltern es hatten, schliesslich verkehrte er mit seinem Kumpels auch abends in Clubs. Es war ja nicht so, dass er noch nie Alkohol hatte. Bestimmt würde er nicht gleich austicken, wenn er erfahren würde, dass ich drei Jungs geküsst hatte. Das hoffte ich jedenfalls. „Mir war schlecht...", tippte ich und starrte den Text ratlos an. „Ich erklär es dir später", fügte ich dann hinzu, bevor ich es sendete. Er war mein Bruder, ich hatte ihm schon immer alles vertraut und er unterstützte mich bisher noch in allem. Mit den drei Jahren Unterschied zwischen ihm und mir hatten wir eine enge und vertraute Beziehung miteinander, wenn auch nicht ganz so nah, als dass wir uns dauernd streiten würden – stattdessen hatten wir die perfekte Balance gefunden. Ich würde ihm von vergangener Nacht und den Jungs erzählen können und selbst wenn es er es nicht besonders toll finden würde, würde er es respektieren, dessen war ich mir sicher.
* * *
Feedback und Kommentare sind immer erwünscht❤️☺️.
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Küsse im 2/4-Takt
Romance••• Der Titel wurde von "Mein erster Fehler - Nur eine Nacht" zu "Küsse im 2/4-Takt" geändert! ••• Eigentlich tanzt Malia in ihrer Freizeit leidenschaftlich Tango, und ruiniert sich nicht mit Erfolg ihr Leben. Aber eines nachts macht sie unter dem E...