16. Wenn mehr kommt als man gegeben hat

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Ich bekam gar nicht richtig mit, wie es geschah, oder ob es einen Auslöser gab. Aber plötzlich beugte sich Till vor und es war offensichtlich, dass es mich küssen wollte; seine Lippen waren leicht geöffnet und seine Augen blickten mir auf den Mund. Wir hatten längst aufgehört zu essen und hatten unsere Stühle in der leeren Bar näher zueinander gerutscht, damit wir uns besser unterhalten konnten. Obwohl es ja nicht so war, dass man sich vor lauter Lärm nicht verstünde... Jedenfalls spürte ich unvermittelt seine Präsenz direkt vor mir und ich spürte seinen Atem, der nach mexikanischem Essen roch. Ich sah den schönen Kontrast von heller Haut und dunklem Haar und seine Lippen, die sich meinen näherte. Ja, Till sah gut aus. Aber ich wollte ihn nicht küssen. Im letzten Moment wich ich aus, räusperte mich und schaute auf den Boden. Es war komisch, dass ich es auf einmal eklig fand, meinen Mund auf seinen zu legen, aber alles in mir widerstrebte sich seinem Kuss, auch wenn er noch so gut aussah. Ich wagte es nicht, Till anzuschauen und würde wohl nie wissen, wie er reagiert hatte, denn zum Glück kam in dem Moment der Kellner und erlöste mich aus der unangenehmen Situation. Rasch bestellte ich die Rechnung und überschlug im Kopf die Preise. Der Kellner, der wahrscheinlich nicht nur Kellner war, druckte die Quittung schnell aus, schliesslich waren wir die einzigen übrig gebliebenen Gäste. Als ich Tills Blick sah, war er eher verärgert als gekränkt und auf einmal lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, als mir richtig bewusst wurde, dass wir alleine waren. Weit und breit niemand, ausser dem Kellner. Runzelte er die Stirn wegen der Rechnung oder wegen mir?

Der Kellner reichte uns über den Tisch die Rechnung und Till bezahlte für beide, eher ich mein Portemonnaie zücken konnte.

„Danke", sagte ich leise zu ihm und der Kellner musterte uns wieder.

Till lächelte mir zu und als der Kellner wieder ging, nahm er mich bei der Hand und stand auf. Eilig hob ich meine Tasche auf, liess mir beim Hinausgehen aber Zeit. Seinen kräftigen Griff um meine Hand jagte mir auf einmal Angst ein und ich beschloss, dass ich ihm den Brief doch geben wollte. Es war nicht so, dass er mir wehtat, aber jetzt, als er mich erneut küssen wollte, merkte ich, dass ich absolut kein Interesse hatte. Das würde er doch wohl akzeptieren müssen?

Aussen blieb Till stehen und da er meine Hand hielt, ich auch. Es war Nacht und wenig Leute auf der Strasse und mit einer Hand kramte ich hektisch in meiner Tasche herum, auf der Suche nach diesem Brief. Es war mir nun egal, ob ich seine Reaktion sah, aber ich wollte einfach klarstellen, dass er nicht mein Typ war. Doch er kam mir zuvor.

„Suchst du etwas?" Seine tiefe Stimme war überraschend nah und als ich aufblickte, war sein Gesicht keine zehn Zentimeter von meinem entfernt. Mit klopfendem Herzen machte ich einen Schritt zurück, bis ich an die Wand der Mexico Bar stiess. Meine Hand um dem Brief zitterte und ich machte eine undeutliche Kopfbewegung, die ein Nicken oder Kopfschütteln sein könnte. Aber Till beachtete meine Antwort gar nicht, er stützte sich mit einer Hand an der Wand hinter mir ab, die andere hielt immer noch meine fest. Dann beugte er sich vor, schloss die Augen und küsste mich heftig. Ich fühlte nichts ausser Ekel. Überrascht wollte ich etwas sagen, wollte den Kuss nicht erwidern, aber er liess mir praktisch keine Wahl, er drückte mich an die Wand hinter mir und küsste mich noch intensiver. Ich begann noch mehr zu zittern und mein Puls vervielfachte sich, ich wollte den Kopf drehen, nun in Panik geraten. Nein, lass mich los, wollte ich schreien, aber Till besass offenbar nicht viel Feingefühl, seine Hand lag sogar plötzlich auf meiner Hüfte und mir wurde fast übel, als er sie in Richtung meinen Hinter bewegte. Ich presste meinen Hinter fester an die Wand hinter mir, aber er liess seine Hand, wo sie war. Die Panik in mir schrie und drückte auf meine Lunge, das Einzige, an das ich denken konnte, war, dass ich weg wollte. Verzweifelt presste ich die Lippen aufeinander, verwehrte ihm die Möglichkeit, mich zu küssen und riss meinen Mund dann von ihm los. Schwer atmend wand ich mich aus seinem Griff, knallte ihm den Brief an die Brust und fauchte, meine Angst überspielend: „Wie kannst du nur?!"

Dann drehte ich mich um und hastete mit wabbeligen Beinen davon. Mein ganzer Körper schüttelte sich und ich war nah an den Tränen, aber ich wollte auf keinen Fall mitten auf der Strasse weinen. Ich beschleunigte meine Schritte und die Gefühle brachen in mir zusammen, kollidierten an einem einzigen Ort und schmerzen mir in der Brust. Es war alles so gut gegangen, das ganze Essen war friedlich gewesen. Und dass er mich küssen wolle, wo ich ihn ja auch geküsst hatte, war verständlich. Aber als ich ihm auswich, hätte er es sein lassen müssen, er hatte kein Recht, sich so an mich zu drängen, meine Hand so festzuhalten. Erst jetzt spürte ich an meinem Arm, dass sein Griff echt stark gewesen war. Bitter die Tränen runterschluckend rieb ich mir den Arm. Als ich schon nah bei meinem Haus war, merkte ich, dass ich bald das Weinen nicht mehr würde zurückhalten können, egal wie sehr ich mir Mühe gab. Der Kloss in meinem Hals wurde immer wie grösser und nahm mir den Atem. Ich fühlte mich, als sei ein sorgfältig aufgebautes Schloss der Hoffnung in meinem Innern auf einmal zerbrochen und beim Fallen nahm es alles in mir mit, brach mein Vertrauen in Till und meinen Glauben daran, dass er ein guter Junge war. Ich kam zu Hause an und meine Lippe zitterte so stark, dass ich fest darauf beissen musste, damit ich nicht zu schluchzen begann. Ich weiss nicht, ob es Glück war oder ob es war, weil ich wusste, dass ich es mir nun erlauben konnte, aber als ich die Treppe in mein Zimmer hochging, begann die erste Träne zu laufen und kurz darauf folgte ein Schluchzen. Ich warf mich auf mein Bett und weinte in mein Kissen, mein ganzer Körper wurde von den Schluchzern durchschüttelt und ich weinte die ganze Enttäuschung und Verzweiflung über dieses misslungene Date in meinen Kissenbezug. Irgendwann ging die Türe auf, meine Tränen waren beinahe versiegt, aber mein Kopf brummte. Ich hatte keine Lust, zu schauen, wer da war, aber trotzdem füllte es mich mit Wärme, als ich Theos Stimme erkannte.

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Habt ihr damit gerechnet? :D freue mich über Kommis von euch! Und wenn's euch gefällt, könnt ihr mir gerne auch ein Vote geben :).

Küsse im 2/4-TaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt