33. Bilder über Bilder

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Ich hatte meinen Hundeblick noch drauf, denn Kyle gab geschlagen nach. „Na gut, ich hab meine Mappe dabei. Aber es sind noch nicht alle fertig."

Eilig nickte ich. „Macht nichts." Diejenigen, die er hier aufhängte, waren wohl fertig und diese Bilder würden dann sowieso alle sehen – warum also sollte er mir nicht jetzt schon ein paar Werke zeigen können?

„Gut, komm mit." Lächelnd nahm Kyle mich an der Hand und führte mich in Richtung Gang. Dabei drehte er sich noch ein paar Mal um, vielleicht, um zu schauen, ob ich wirklich mitkam oder ob ich meine Meinung geändert hatte. Aber ich folgte ihm brav zu der Garderobe, wo er aus einem Rucksack eine Mappe im A4 Format zog. Sie war schön verziert, mit kunstvollen Elementen und Symbolen aus der Fantasiewelt, die miteinander verschmolzen und ein gekonntes Farbenspektakel wiedergaben. Staunend hob ich die Augenbrauen, als ich die Zeichenmappe genauer anschauen konnte. „Wow, das ist ja cool verziert."

„Danke." Wieder lachte Kyle und hielt mir die Mappe kurz hin. „Das ist einfach so Gekritzel."

Mit der Bemerkung war meine Hoffnung wieder verschwunden, dass er dieses Kompliment ohne Verminderung entgegennehmen konnte. Gemeinsam gingen wir wieder in den Tanzsaal und setzten uns auf zwei der Stühle, die am Rande stehen, auf denen manchmal Zuschauer sassen. Gespannt schaute ich zu Kyle und beobachtete ihn, wie er die Mappe auf den Schoss legte und dann aufklappte. „Mal schauen, was da oben liegt", kommentierte er und grinste leicht. Dann legte er die offene Mappe so hin, dass ich es sehen konnte. Darin waren schätzungsweise zwanzig Zeichnungen gestapelt, die, nicht ganz sauber geordnet, hintereinander hervorlugten. Das oberste Blatt war ein festes Material und er hatte, soweit ich erkennen konnte, mit Farbstiften gezeichnet. Ich betrachtete die Zeichnung und kriegte den Blick nicht mehr davon los. Es war eine perfekte Zeichnung, ein schöner Ausschnitt einer bergigen Landschaft im Dämmerlicht war zu sehen und links im Bild sah man ein Mädchen, das dick angezogen war und über die Schulter zurückschaute. Sie hatte dunkle Haare und dunkle Augen und irgendwie wirkte sie geheimnisvoll, wie sie zurückschaute, als würde sie jemanden beobachten. So wie ihre Gesichtszüge waren, hatte ich fast das Gefühl, dass sie nicht nach einer echten Person gezeichnet wurde. Aber das farbliche Zusammenspiel und das perfekte Abbild der Natur war beeindruckend.

„Wow, das ist echt gut", hauchte ich fasziniert und berührte das Bild mit den Fingerspitzen. „Hast du das aus dem Kopf gezeichnet?"

Ich spürte Kyle neben mir nicken. „Ich weiss nicht, ob es das Mädchen oder den Ort gibt", meinte er. „Freut mich, wenn es dir gefällt." Tatsächlich tönte er erfreut und ich meinte zu merken, dass er mich anschaute und nicht das Bild, aber da ich immer noch auf seine Zeichnung fixiert war, wusste ich es nicht genau.

„Willst du mir noch mehr zeigen?", fragte ich vorsichtig. Man traf schliesslich nicht viele so begabte Leute an im Leben.

Kyle zögerte, nickte dann aber. „Okay, lass mich schauen, was ich noch fertiges hab." Er nahm die Mappe etwas näher zu sich und blätterte darin herum. Als ich ihm von der Seite her zuschaute, erinnerte mich seine Haltung an meine Vorstellung, wie er am Zeichnen sein könnte. Er hatte die Haare offen und sie fielen ihm leicht ins Gesicht, der Blick war auf die Mappe gerichtet und er hatte den Mund leicht geöffnet. So wie er an die Wand lehnte, wirkte er völlig ruhig und zufrieden. Dann sah er abrupt zu mir und ich erschrak ein wenig, als ich ihm plötzlich in die Augen sah. „Hier", sagte er und hielt mir ein weiteres Bild unter die Nase. Es war ein Bleistiftbild, diesmal – offenbar hatte er mehrere Techniken. Diesmal zeigte es ein Tier, beziehungsweise mehrere Tiere. Mitten im Gebüsch waren drei Eichhörnchen zu sehen, die am Boden nach etwas suchten, wahrscheinlich Nüsse. Lächelnd nahm ich es in die Hand und bewunderte die feinen Striche von Kyle, die Schattierungen, die die Zeichnung lebendig wirken liessen und die exakte Widergabe der Tiere und der Natur. „Wow", sagte ich nur, aber meine Augen waren bestimmt doppelt so gross wie sonst.

„Das hab ich abgezeichnet", meinte Kyle und ich hörte das Lächeln in seiner tiefen Stimme.

Kurz warf ich ihm einen Blick zu, es war süss, wie er mir zuschaute, wie ich seine Arbeit begutachtete. „Dann hast du die Eichhörner gesehen!", bemerkte ich begeistert und grinste.

„Sie haben aber nicht still gehalten", erwiderte Kyle und lächelte noch mehr. „Das ist noch mühsam."

„Oh, die bösen, bösen Eichhörner haben nicht Modell gestanden", zog ich ihn sarkastisch auf und er lachte. Dann gab ich ihm das Bild wieder zurück und er versorgte es vorsichtig wieder unter den anderen. Er reichte mir noch andere Bilder, ganz unterschiedliche Motive und verschiedene Methoden zum Zeichnen. Die Vielfalt war enorm. Und manchmal rutschte ein anders Bild unter denen hervor, die er mir zeigte, solche, die er noch bei sich halten möchte. Zu meiner Schande musste ich zugeben, dass ich jeweils immer schnell einen Blick darauf erhaschte, um so viel wie möglich von ihm zu sehen. Er hatte Zeichnungen von Menschen, die er kannte, Portraits von Schauspielern und Szenen aus dem Alltag gezeichnet, aber es fanden sich auch epische Bilder der Natur oder gar Fantasiebilder darunter. Manchmal malte er mit Filzstift, manchmal mit Bleistift und teilweise mit Farbstiften, das Einzige, das konstant blieb, war das Papier – es war immer dasselbe, weisse, feste Papier. Einmal lugte unter einem Landschaftsbild ein anderes hervor, ein farbiges Portrait. Als ich es unauffällig anschauen wollte, meinte ich fast, dass die Haare, die Stirn und das Auge, das ich sehen konnte, meinen sehr gleichen. Es war dieselbe Haarfarbe und Augenfarbe, wie ich sie hatte. Aber er schob das Bild wieder unter die anderen zurück, bevor ich es genauer beurteilen konnte und andererseits war ich nicht die Einzige, die blaue Augen und dunkelbraune Haare hatte. Dennoch juckte es mich, das Bild genauer zu sehen, denn wenn er tatsächlich mich gezeichnet hatte, dann, naja, wüsste ich auch nicht, was das bedeuten würde. Dass er mich mochte? Oder dass er einfach fand, ich sei ein gutes Motiv?

„Zeichnest du die Leute, die du kennst, aus dem Kopf?", fragte ich, als er mir seine Mutter zeigte, die auf einer Wiese stand, so fehlerfrei gezeichnet, als sei es ein Foto.

„Kommt drauf an", meinte Kyle. „Manche wollen Modell stehen, andere nicht. Es ist was anderes, ob ich sie so abzeichnen, wie sie gerne draufstehen, oder ob ich sie so darstelle, wie ich sie sehe."

* * *

Küsse im 2/4-TaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt