46. Geheimnisse kommen immer ans Licht

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Mein Vater stand fuchsteufelswild im Türrahmen.

„Du sagtest, du würdest ihn nicht mehr treffen!", brüllte er und spuckte dabei. Ich wich ihm angewidert aus.

„Er kam zu mir, ich hab das nicht gewusst", sagte ich, stolz auf meine Ruhe.

„Woher weiss er überhaupt, dass du hier wohnst, hm?!" Mein Vater deutete anklagend auf mich. „Hast du ihm deine Adresse gegeben?"

„Das steht auf der Liste im Tango! Das kann jeder nachlesen!"

„Er soll doch nicht besuchen gehen! Du hättest gar nicht mit ihm zu reden brauchen!", ereiferte sich mein Vater und sein Kopf war hochrot.

„Soll ich ihn etwa ignorieren?", spottete ich, aus irgendeinem Grund musste ich lachen.

„Sei nicht so frech, Malia! Soll ich deiner Mutter davon sagen?!"

Mein Herz fror ein. Bestimmt hörte sie sein Rumgeschrei sowieso schon. Hatten sie sich nicht genau deswegen getrennt?

„Das ist nicht nötig", sagte die eiskalte, aber ruhige Stimme meiner Mutter rechts von mir und ich hätte vor Schrecken beinahe einen Herzinfarkt bekommen. „Ich höre dich."

„Dann ist ja gut", schnaubte ich aufgebracht.

Meine Mutter trug wie immer eine Bluse, die sie bis zum Hals zugeknöpft hatte und seit der Scheidung hatte sie etwas zugenommen, wie mein Vater es ihr gerne gesagt hatte.

„Malia, du erzählst mir augenblicklich, wer Kyle ist und was dir ins Gehirn geschneit hat, dass du dich mit ihm triffst."

Ich war so perplex von dieser Aussage, dass ich meine Wut nicht in Worte fassen konnte und so einfach mal gar nichts sagte. Mit zusammengebissenen Zähnen presste ich dann hervor: „Kyle geht mit mir ins Tango. Er tanzt mit mir."

„Er hat sie auf einen Kaffee eingeladen", fügte mein Vater hinzu, als sei er ein Grundschüler, der petzte, dass jemand das Pausenbrot in den Abfall geschmissen hatte.

Genauer gesagt hat er mich zwei Mal auf einen Kaffee eingeladen, aber das war ein unwichtiges Detail.

Doch meine Mutter nahm dieselbe Farbe an wie mein Vater und zitterte vor Zorn am ganzen Körper. „Was sagen wir dir die ganze Zeit! Du darfst keine Jungs küssen, bevor du nicht heiratest!"

„Dein Exmann sagte Kaffee, nicht Küssen! Auch wenn beiden mit K beginnt!"

„Aber man kann sich auch beim Kaffee trinken küssen!", rief meine Mutter. „Wenn er sich in dich verliebt, dann wird er dich küssen wollen, das darf nicht passieren!"

„Mama, das ist völlig bescheuert! Hör dir mal zu, was du sagst!"

„Das ist nicht bescheuert! In so ein hübsches Mädchen wie du verliebt man sich leicht!" Sie deutete auf mein Gesicht und meinen schlanken Körper. Ja, das war typisch für sie. Wenn sie mir ein Kompliment machte, dann so, dass es auch eine Beleidigung sein könnte.

Wütend warf ich die Arme in die Luft. „Ach, tut mir ja leid, dass ich anscheinend hübsch bin! Ich weiss auch nicht, woher das kommt!" Das war eingebildet und dazu noch gelogen, denn meine Eltern sahen nicht schlecht aus, aber ich scherte mich gerade nicht gross darum.

„Du musst nur schauen, dass du nicht flirtest", sagte meine Mutter etwas leiser. „Das weisst du doch."

„Und ihn nicht am Arm packen", fügte mein Vater hinzu und meine Mutter warf ihm ein Blick zu.

„Meines Erachtens ist das nicht flirten. Wie habt ihr denn geflirtet, bitte? Habt ihr euch an den Händen gepackt? An den Beinen oder Ellbogen?" Ich konnte nicht anders, als mich über sie lustig zu machen. Doch sie hatten nicht allzu viel Humor parat und ihre Gesichtsfarben wurden synchron dunkler.

„Was ist hier denn los?", fragte auf einmal eine Männerstimme hinter mir und ich spürte, wie mein grosser Bruder die Hände auf meine Schultern legte und nah an mich herantrat. „Geht es um Kyle?", flüsterte er.

Ich nickte. „Er war hier, wollte mit mir reden", sagte ich mit gedämpfter Stimme, doch es war mir egal, ob meine Eltern mich hörten.

„Und wie immer ist er eingeweiht!", entrüstete sich meine Mutter und starrte Theo böse an.

„Könnte an meinem Charme liegen", entgegnete er und ich musste lachen, als ich merkte, dass es auch für ihn nur noch lächerlich wurde.

„Du...! Malia, du hast Ausgehverbot! Jetzt reicht's!" Meine Mutter erreichte völlig neue Töne beim Schreien und ich war kurz davor, ihr einen Singkurs anzubieten, doch dann traf mich die Bedeutung ihrer Worte.

„Was?! Aber ich hab Kyle im Tango getroffen, nicht im Ausgang!" Das war gelogen, aber das wusste sie ja nicht.

„Mir egal! Nach neun Uhr bist du zu Hause, auch am Wochenende!" Meine Mutter räusperte sich, vor laute Brüllen wurde sie bestimmt bald heiser.

„Das kannst du nicht machen!" Hoffentlich machte unsere Disco vor neun Uhr auf, sonst konnte ich unsere James Bond Mission vergessen!

„Oh doch, das kann ich!" Meine Mutter drehte sich entschlossen um und lief ins Wohnzimmer, sie hielt die Konversation für zu Ende. Verdutzt und wie ein nasser Hund stand ich im Gang und starrte ihr nach, unfähig, zu begreifen, was geschehen war. Wie konnte da so eskalieren? Wenn sie schon so ausrastete, wenn ich auch nur jemanden sah, der männlich war! Meine Unterlippe begann zu zittern, ich befahl mir, nicht zu weinen. Theo drückte mich und seufzte. „Tut mir Leid, Schwesterherz. Sie wird sich wieder beruhigen, hat sie bei mir auch getan."

Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und sagte nichts. Ja, hoffentlich hatte er Recht.

Aber als ich jetzt zu meinem Vater schaute, sah ich, dass er nachdenklich gestimmt war und sich am Kinn kratzte. Er schaute kurz zu meiner Mutter und der Blick, mit dem er mich anschliessend bedachte, war fast schon ein wenig ... weich.

„Ist denn Kyle wirklich so nett?", fragte er im Flüsterton und ging auf mich zu.

Ich schaute ihn fassungslos an, mich fragend, ob er mich auf den Arm nehmen wollte. Theo stupste mich an, damit ich antwortete. Ganz ehrlich, ich hatte absolut keine Ahnung, warum ich nichts von den Bildern erzählte. Ich sagte: „Ja, er ist immer sehr nett." Das stimmte. Bloss war er auch sehr... komisch.

„Hm", machte mein Vater, aber bevor sich die Situation verbessern konnte und ich begreifen, was den Sinneswandel meines Vaters ausgelöst hatte, kam meine Mutter mit einem Papier zurück.

„Das sind die Scheidungspapiere", erklärte sie und ich versteifte mich. „Wir müssen sie unterschreiben." Sagte sie zu meinem Vater.

Er nickte knapp und ging zu ihr, um die Papiere zu lesen.

Kurz darauf sassen mein Vater und meine Mutter einander gegenüber auf dem Sofa, genauso wie damals, als sie uns von der bevorstehenden Trennung erzählt hatten. Meine Mutter unterschrieb zuerst und rechte dann wortlos und ohne ihn anzuschauen das Papier und den Stift an ihren Exmann weiter. Er blickte sie eine Sekunde lang an und unterschrieb dann entschlossen das Papier an dem dafür vorgesehen Ort.

„Jetzt sind wir offiziell geschieden." Mein Vater schaute auf und endlich sah meine Mutter ihn auch an. Sie blickten einander mit dem eisernen Blick an, den sie seit dem einen schicksalhaften Tag füreinander reserviert hatten.

„Wir müssen es nur noch abschicken", ergänzte meine Mutter hart.

Und bei dem Anblick von meinen Eltern begann ich wieder haltlos, aber stumm zu weinen und kuschelte mich tiefer in Theos Arme.

* * *

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