Es war ein seltsames Szenario. Ich sass neben meinem Vater auf dem Sofa im Wohnzimmer, er war auf seinen Laptop vertieft. Wir waren uns physisch so nahe, aber seit einer Stunde haben wir kein einziges Wort gewechselt. Wir beide waren zu konzentriert auf unsere Sache. Dabei merkte ich, dass er immer wieder zu mir schaute, wohl in der Meinung, ich sehe es nicht. Ich meinerseits versuchte, einen Blick auf seinen Bildschirm zu erhaschen, um zu sehen, was er gerade machte, doch es spiegelt und ich müsste mich nach vorne bewegen, um etwas erkennen zu können. So wichtig war es mir auch wieder nicht, denn gerade versuchte ich Leos Adresse herauszufinden, denn ich hatte beschlossen, Leo als nächstes den Brief zu geben, da Till seinen schon hatte und ich bei Kyle warten wollte. Also habe ich ein wenig herumgefragt. Ich kenne viele Leute, Leute wie Richard, die man einfach kannte, aber auch Leute, die ich mal irgendwo getroffen hatte und sie ich seither Grüsse. So habe ich mich an ein paar ältere Schüler gewendet, die wahrscheinlich mit Leo in der Klasse waren – ich schätze ihn eine Klasse über mir ein und auch Jonas hatte so etwas verlauten lassen. Einer dieser Schüler kannte jemanden, der Leo kannte und so wartete ich jetzt auf die entsprechende Nachricht. Mein Handy brummte und als ich auf den Display blickte, sah ich eine Adresse, etwa eine Viertelstunde von hier entfernt. Schnell bedankte ich mir bei ihr und betonte nochmals mein Alibi, mit dem ich nach seiner Adresse gefragt hatte. Jetzt würde ich zu ihm gehen und diese Sache abhaken. Als ich in meiner Tasche, die vor meinen Füssen lag, nochmals kontrollierte, ob der Brief wirklich drinnen war, konnte ich einen Blick auf die Tätigkeit meines Vaters werfen. Und hielt in der Bewegung inne. Stirnrunzelnd lehnte ich mich ein wenig zurück, um besser sehen zu können, was er tat – und tatsächlich. Er war im Internet und surfte nach billigen Wohnungen in der Umgebung. Mir klappte den Mund auf. Wieso um alles in der Welt suchte er nach Wohnungen? Für sich etwa? Wollten sie umziehen... oder wollte er umziehen? Dieser Gedanke versetzte mir einen Strich ins Herz, ich könnte mir den Haushalt ohne ihn nicht vorstellen. Man sagt sich doch, wenn der Mann anfängt, Wohnungen zu suchen, sei es vorbei, oder? Und ohne zu überlegen, sprach ich ihn darauf an: „Papa, warum suchst du Wohnungen?" Meine Stimme klang anklagender als gewollt.Mein Vater schaute auf, wenn ich mich nicht täuschte, war er leicht zusammengezuckt. Seine Miene aber war stoisch wie immer. „Ach, das", sagte er und tönte kein bisschen schuldbewusst. Das machte mir Hoffnungen, dass einen ganz andern Grund gab. „Das ist für einen Freund. Du weisst doch, der, der wegen seinen Kindern hierhin ziehen will?" Mein Vater schaute mich an und erwartete, dass ich mich erinnerte. In der Tat wusste ich noch, wie er einmal von jemandem erzählt hat, der neu in die Stadt ziehen wollte, weil seine Kinder nun hier in die Schule gingen.
Misstrauisch musterte ich meinen Vater. „Ja, aber warum sucht der nicht selber?"
Mein Vater lächelte ein wenig. „Ja, das tut er ja auch!", meinte er und drehte den Laptop ein wenig zur Seite. „Aber ich kann ihm doch helfen? Das würdest du für Jonas sicher auch tun?" Das war ja klar gewesen, dass er niemals Lona als Beispiel genommen hätte, aber dennoch verstand ich ihn. Natürlich würde ich helfen. Zumal ich von allen drei die Geduldigste war und auch bereit, für etwas mal mehrere Stunden Zeit zu investieren, auch wenn man langsam vorankam. „Stimmt, ich würde auch helfen", gab ich kleinlaut zu, beschämt, dass ich ihm in gewisser Weise vorgeworfen hatte, dass er mich belog – und wegziehen wollte.
Mein Vater lächelte mich beruhigend an und drehte den Laptop wieder zu sich. „Und ich kenne die Stadt hier auch besser als er, weisst du?", fügte er hinzu, schon wieder auf den Bildschirm schauend. Ich nickte, wohlwissend, dass er es nicht sah. Aber wenn jemand mit mir sprach, sollte er mich auch ansehen – in dieser Hinsicht wurde ich schnell wütend.
„Ich muss gehen", verkündete ich und machte mich auf eine Nachfrage gefasst, wohin ich gehen würde. Doch nichts kam und ich nutzte die Chance, packte meine Tasche und Jacke und eilte aus dem Haus.
Es ging nicht lange bis zu Leos Haus, was ich ja schon gewusst hatte. Doch dennoch nahm ich mir auf dem Weg Zeit, legte mir die Worte zurecht und versuchte mir vorzustellen, wie er reagieren würde. Denn von allen war er am meisten abweisend gewesen. Als ich vor seinem Haus stand, traute ich mich erst fast nicht, hineinzugehen, vor meinem inneren Auge sein distanzierter Blick von der Schule. Aber dann gab ich mir einen Ruck. Ich musste das durchziehen – gerade deswegen! Entschlossen und eilig, damit ich meine Meinung nicht wieder änderte, stieg ich die Treppen zum Mehrfamilienhaus hoch und suchte die Klingel, auf der sein Name stand. Seltsamerweise machte Leo auf, ohne zu fragen, wer da war und ich stiess die Eingangstür auf. Eigentlich war es gut, dass er nicht zuerst durch den Lautsprecher gesprochen hatte, denn sonst hätte er mich vielleicht gar nicht reingelassen. Das Mehrfamilienhaus war hoch und hatte pro Stock drei Wohnungen, doch von aussen gab es einen guten Eindruck ab. Die Wände waren sauber gestrichen und die Stöcke übersichtlich angestrichen. Mit klopfendem Herzen stieg ich die Treppe hoch in den zweiten Stock und stand dann endgültig vor Leos Wohnung, seine Tür hatte ein Guckloch. Noch bevor ich klingeln oder anklopfen konnte, öffnete sich die Tür von selbst und Leo stand im Türrahmen. Er trug ein Unterhemd und Jeans, ich hörte Stimmen hinter ihm. Doch Leo lehnte sich so in die Tür, dass ich kaum an ihm in die Wohnung vorbei sah. Wahrscheinlich waren sein Eltern noch da. Aber als er mich erblickte, entgleisten auf einmal seine Gesichtszüge und er schaute mich an, als sei ich direkt vom Himmel gefallen.
„Hallo", sagte ich unsicher, als Leo mich verblüfft anstarrte. „Ich, äh, wollte das einwerfen..." Nervös hielt ich ihm den Brief hin, meine Hand zitterte. „Und hab dann geläutet, um es dir grad direkt zu geben", fügte ich mein Alibi hinzu, aber ich merkte, dass es total unglaubwürdig klang. Leo erwachte aus seiner Starre, stellte sich gerader hin und nahm den Brief verwundert entgegen. Seine Haare waren verwuschelt und er wirkte auch vom Blick her eher so, als habe er noch nicht viel mit dem Tag angefangen.
* * *
Hii, gefällt euch die Story bis jetzt? Kritik? Verbesserungswünsche? :)
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Küsse im 2/4-Takt
Romansa••• Der Titel wurde von "Mein erster Fehler - Nur eine Nacht" zu "Küsse im 2/4-Takt" geändert! ••• Eigentlich tanzt Malia in ihrer Freizeit leidenschaftlich Tango, und ruiniert sich nicht mit Erfolg ihr Leben. Aber eines nachts macht sie unter dem E...