49. In die Höhle des Löwen

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Kyle hatte mir im Tango echt einen Floh ins Ohr gesetzt gehabt: Ich musste ihn dringend sehen. Ich dachte den ganzen nächsten Tag an ihn und an sein Verhalten mir gegenüber. Ich hörte in der Schule am Freitag kaum zu und überlegte bloss, wie ich zu Kyle gelangen konnte, ohne dass meine Mutter davon erfuhr. Nach der Schule musste ich nach Hause gehen, aber auch zu Hause am Esstisch war ich abwesend, bekam nicht mit, was Theo und meine Mutter über Besuchswochenenden besprachen. Nach dem Nachtessen beschloss ich, dass ich keine Sekunde länger tatenlos rumsass und an Kyle dachte, nein, ich wollte jetzt zu ihm. Was auch immer zwischen uns war, ich wollte Gewissheit. Also rief ich Lona an und erklärte ihr mein Dilemma.

Diese hörte zu und sagte nichts, ausser dass sie ein wenig lachte, als ich das Gespräch mit „ich will dringend Kyle wiedersehen" eröffnete.

„Puh, du hast echt Glück, es ist erst sieben Uhr. Warum zur Hölle esst ihr so früh Nachtessen?", war Lonas erste Reaktion.

„Meine Mutter wollte mir wohl einen Grund liefern, gerade nach der Schule nach Hause zu kommen", vermutete ich.

Lona schnaubte. „Wie auch immer. Du hast eineinhalb Stunden Zeit, okay? Komm lieber nicht zu spät, sonst verlängert sie das Ausgehverbot noch mehr."

„Auf wann, bitte? Mein Leben ist eh schon auf zu Hause verbannt." Früher als halb sieben konnte ich an manchen Tagen beim besten Willen nicht nach Hause kommen.

„Da muss ich dir leider Recht geben, Schätzchen", gab Lona zu und machte eine kleine Pause. „Du musst jetzt aus dem Haus kommen und deiner Mutter einen guten Grund liefern, damit sie dich nicht beschattet oder so", meinte sie dann nachdenklich. „Und du musst Mr. Langhaar anrufen, ob er überhaupt Zeit hat."

Ich nickte, auch wenn Lona das nicht sehen konnte. „Ich schreib ihm, sobald wir einen Plan haben." Ich sagte mit Absicht ‚schreiben' und nicht ‚anrufen', weil ich jetzt schon wusste, dass mein Hirn wie leergefegt sein würde, würde ich seine Stimme hören. Das Gespräch würde nicht einfach werden, so viel war sicher.

„Sag einfach, du musst zu mir, weil ich... äh, weil ich krank sei", schlug Lona zögernd vor. „Und meine Eltern seien nicht zu Hause."

Ich hob zweifelnd die Augenbrauen. „Meinst du, es reicht aus, zu sagen, ich müsse Kranken-schwester spielen?"

„Hey, das gehört zum Freundinnendasein", protestierte Lona, ich hörte ihr das Lachen an. „Arme, verwahrloste Teenager ohne Elternbetreuung haben einen Anspruch auf gute Freundinnen", behauptete sie und diesmal prustete ich los. Lona war alles andere als arm und verwahrlost.

„Okay, du armes Kind", lachte ich. „Ich eile dir zur Hilfe." Noch während ich aufstand und mir was adäquates anzog, schrieb ich Kyle eine SMS, fragend, ob er gerade Zeit hatte, damit wir reden konnten. Schon als ich aus meinem Zimmer ging, antwortete er mit Ja und fragte, ob es mir was ausmachen würde, wenn ich zu ihm gehen würde. Ich schrieb zurück, dass die Idee allemal besser war, als wenn er zu mir kommen würde. Gerade wollte ich aufgeregt die Treppe runterrennen, als Theo mir über den Weg lief. Er hatte ein Buch in der Hand und trug Trainersachen, offensichtlich hatte er nicht vor, noch irgendwas zu unternehmen ausser zu lesen. Da war ich im Moment wohl anders gestimmt.

„Du siehst aus wie jemand, der einen Plan hat", bemerkte er und begutachtete das Grinsen auf meinem Gesicht. „Bist du geschminkt?"

Dass ihm das auffiel. Lona war immer geschminkt! Aber tatsächlich hatte ich meine blauen Augen etwas betont und die dunklen Wellen fielen mir geordnet über die Schultern. Ich nick-te zerknirscht. „Ich möchte Kyle sehen und hab nur noch Zeit bis halb sieben", erklärte ich ihm die Kurzversion. „Hilfst du mir?"

Theo runzelte die Stirn und seufzend fasste ich zusammen, was ich vorhatte und warum ich ihn sehen wollte. Am Ende nickte Theo. „Ich helfe dir", meinte er. „Aber ich will anschliessend jedes Detail wissen!"

Ich grinste und nickte, dann eilte ich die Treppe runter, Theo folgte mir mit einem unauffälligem Abstand und seinem Buch in der Hand.

„Mama?", rief ich, während ich mir meine Jacke vom Ständer bei der Eingangstür schnappte. „Ich muss zu Lona gehen. Bin um halb acht wieder hier."

Meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer geeilt und kniff die Lippen zusammen. „Okay, was ist denn bei Lona?" Das klang so, als ginge ich nur zu Lona, um mich zu bekiffen oder so.

„Sie ist krank. Ihre Eltern sind nicht da, da hab ich ihr gesagt, ich käme kurz vorbei", log ich mit einem perfekten Pokerface.

„Sie ist krank? Was hat sie denn?" Meine Mutter traute mir wie immer nicht – diesmal zu Recht.

„Ihr ist schlecht und so", behauptete ich mit undurchdringlicher Miene.

„Das geht grad rum, bei mir in der Klasse fehlen viele", warf Theo von der Ecke her ein und sah einen Moment lang von seinem Buch auf. Beinahe wäre mein Pokergesicht ins Stocken geraten, als ich über seine Vorstellung schmunzeln wollte.

„Ah, wenn sie niemanden anderes hat", seufzte meine Mutter. „Sein pünktlich wieder da."

Ich versuchte, mich nicht über ihren überheblichen Tonfall zu ärgern und nickte brav. „Klar." Dann ging ich schnell aus dem Haus und zog die Tür hinter mir zu. Auf dem Weg schrieb ich Lona, dass es geklappt hat und eilte dann raschen Schrittes zu Kyles Wohnung - zum Glück hatte ich mir den Weg gemerkt. Je näher ich seiner Wohnung kam, desto aufgeregter wurde ich, meine Hände begannen zu zittern und meine Gedanken rotierten. Immer und immer wieder stellte ich mir vor, wie ich ihn auf die Bilder ansprach und bei jedem Mal reagierte er anders. Einmal ging er auf mich los, einmal lachte er wie ein Irrer und einmal begann er eine lange Geschichte. Plötzlich etwas panisch schickte ich Lona die Adresse von Kyle und ordnete sie an, dass sie mich zusammen mit Theo und Jonas bei ihm suchen gehen sollten, wenn ich um acht Uhr nicht zu Hause bin. Zur Sicherheit leitete ich die Nachricht an Theo weiter, denn er konnte ja besser aussagen, ob ich nach Hause gekommen bin oder nicht. Und ich setzte mich lieber auf acht Uhr fest, weil man bei mir nie sicher sein konnte, wie pünkt-lich ich war.

Beide schrieben überraschend ernst zurück, dass sie mich niemals bei ihm würden versauern lassen. Auch wenn Lona hinzufügte, dass sie heute ein Date mit dem Drink-Typen hatte und den halt notfalls mitnehmen würde. So hatte ich das letzte Stück Weg zu Kyle gut überbrückt, ohne zu hyperventilieren. Mit klopfendem Herzen klingelte ich bei seiner Wohnung und die Tür ging mit einem Surren auf. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding, als ich zu ihm hocheilte und ich hatte eine gefühlte Ewigkeit. Schliesslich stand ich vor seiner Wohnung und begegnete Kyle im Türrahmen. Er stand in der offenen Tür, trug ein gemustertes Hemd und verwaschene Jeans. Seine Haarspitzen waren feucht, wahrscheinlich hatte er vor kurzem geduscht. Seine Haltung, wie er da stand und mich leicht anlächelte, liess mein Herz noch höher schlagen, aber diesmal, weil er ziemlich attraktiv war. Seine blauen Augen leuchteten, als er mich ansah und beinahe hätte ich überhört, wie er sagte: „Hey Malia, komm rein." Seine Stimme war tief wie immer, aber völlig harmlos. Jedenfalls harmlos im Sinne von nicht bedrohlich, doch sie liess mir einen warmen Schauer über den Rücken laufen. Warum nur reagierte ich so heftig auf so einen zwielichtigen Typen? Das konnte man ja unmöglich bereits Stockholmsyndrom nennen. Nervös folgte ich ihm in die Wohnung und er ging voraus ins Wohnzimmer. Wer sagte jetzt zuerst was? Kyle setzte sich aufs Sofa und ich liess mich neben ihm nieder, doch mit einem normalen Abstand zu ihm.

„Kyle, äh, ich... ich wollte", stammelte ich und wurde rot. Verlegen fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare und wollte von Neuem ansetzen, aber er kam mir zuvor.

* * *

Wie ist das Kapitel?🙈

Küsse im 2/4-TaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt