Ich war wieder einmal in der Umkleidekabine des Tanzstudios, dabei versuchte ich so gut es ging, den Streit meiner Eltern und Leo zu vergessen. Als ich auf den Gang trat und auf der anderen Seite Kyle erblickte, zuckte ich genervt zusammen. Denn dann fiel mir ein, dass ich vor lauter Streit den Brief zu Hause gelassen hatte. Zwar wusste ich ja noch nicht genau, ob ich es ihm wirklich geben wollte, aber wie bei Till konnte es immer doch noch dazu kommen. Beim Gedanken an Till zog sich mein Magen zusammen und hastig verdrängte ich auch ihn aus dem Kopf. Ich wollte jetzt an nichts Weiteres denken als Tango und Kyle, auch wenn das schwierig war mit all den Problemen. Lona hatte mir per SMS geschrieben, dass sie noch ein paar Leute gefunden hatte, die scheinbar betrunken waren, ohne dass es einen Grund gehabt hatte, aber viel hatten wir heute nicht gemacht – schliesslich war ich dazwischen noch bei Leo gewesen und hatte mich um meine Eltern kümmern müssen. Den Gedanken wieder auf Tango richtend, wartete ich auf Liana, die sich noch am Umziehen war, um dann mit ihr in den Tanzsaal zu gehen.Als wir gerade die Schwelle übertraten, fragte mich Liana unschuldig: „Was ist eigentlich mit dir und Kyle?"
Mein Kopf fuhr zu ihr herum. „Was soll mit uns sein?" Mein Blick war schockiert. Was wusste sie über uns?
„Naja, ihr wirktet vertraut das letzte Mal", meinte Liana bedächtig und lächelte mich an.
Ich beruhigte mich ein wenig, aber ihre Aussage verwirrte mich. Wir wirkten vertraut? Wie soll das den bitte sein? Wir hatten damals über Antonio Banderas diskutiert. „Wir wirkten vertraut?", wiederholte ich fragend und runzelte die Stirn.
Liana wollte etwas erwidern, aber die Tanzlehrerin kam ihr zuvor. Darüber war ich ehrlich gesagt froh, denn Kyles und meine Beziehung war schon kompliziert genug, als dass Liana noch ein Interview darüber führen sollte.
„Alle aufstellen!", bat die Lehrerin laut. „Heute werden wir auf das Zusammenspiel achten!"
Mit dem meinte sie, dass wir als Paare so tanzten, dass die Paare miteinander gut aussahen. Dem widmeten wir uns den ganzen Unterricht lang und wieder einmal tanzte ich einen Teil mit Kyle, diesmal aber eher, weil die Lehrerin uns zuordnete. Sein Blick auf mir war tatsächlich vertraut und wir begannen erstaunlich locker ein Gespräch. Es freute mich, dass wir miteinander reden konnten, auch wenn es manchmal mit dem Tanzen und Reden schwer wurde. Aber er sprach nicht vom Küssen und wir piesackten einander nicht, alles in allem war das ein richtiger Erfolg. Auch beim Tanzen machte es Spass zu sehen, dass alle Paare synchron eine Figur machten, im Takt der Musik und ohne dass jemand aus der Reihe fiel. Das Lied war gut gewählt und nach einer Weile konnte ich den einen Teil auswendig. Irgendwann sah ich, wie Liana mich verschmitzt anlächelte, als ich grad mit Kyle tanzte und schaute dann schnell weg. Für den Moment war ich froh, dass ich den Brief nicht dabei hatte. Denn wenn alles gut wurde, würde ich die Entschuldigung sicher nicht auspacken.
Man sollte meinen, nach meinem Tag heute könnte mich nichts mehr überraschen. Aber Kyle brach den Rekord. Ich hatte mich wieder umgezogen und von Liana verabschieden und stand draussen vor dem Tanzstudio. Gerade machte ich die Jacke zu, weil es ein wenig kühl war, als ich eine Männerstimme hinter mir hörte.
„Malia?" Ich drehte mich erstaunt um und erblickte Kyle, der mich etwas nervös ansah. Seine kinnlangen Haare hatte er nach dem Tango wieder geöffnet, die er jetzt mit der Hand etwas ordnete.
„Ja?" Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, da wir sonst in einem übergrossen Abstand voneinander standen. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, da er nur meinen Namen genannt hatte, aber auch er legte sich gerade die Worte zurecht. Dann fragte er geradeheraus: „Hast du was vor?" Er stockte kurz und fügte hinzu: „Jetzt gerade?"
Ich war zwar so verwirrt wie am ganzen Tag noch nicht, aber ich schüttelte langsam den Kopf. Nein, ich hatte nichts vor, aber wollte er mich gerade fragen, ob wir was zusammen machen wollen? Kyle, der so überrumpelt reagiert hatte?
„Kann ich dich in ein Café einladen?", rückte er da endlich mit der Sprache raus und mir fiel fast die Kinnlade herunter. Hastig erinnerte ich mich daran, dass ich auf die Frage antworten sollte und nickte dann lächelnd. „Ja, klar." Ich war echt gespannt, wie Kyle wirklich so war. Von all den drei Typen meiner Sündennacht musste ich zugeben, war Kyle der Interessanteste. Naja, von Leo kann man das nicht behaupten und Till hatte ich auf die schwarze Liste gesetzt. Kyle ging die Treppe vom Tanzstudio runter und ich folgte ihm, dann meinte er: „Gut, ich kenne ein Café ganz in der Nähe, wenn das recht ist?"
Ich nickte schnell. Ich war da nicht heikel und froh, dass Kyle schon eine Idee hatte und ich mir kein Café ausdenken muss, in das wir gehen könnten. Erst nachdem wir ein Stück nebeneinander gelaufen sind, merkte ich, dass ich langsam nervös wurde. Ich schaute immer wieder zu Kyle und dann wieder weg, teilweise auf die Strasse, die Häuser oder auf andere Passanten. Anfangs sagten wir nichts, aber bald mal fragte Kyle: „Und, wie bist du aufs Tanzen gekommen?" Er schaute mich an und seine blauen Augen blitzen amüsiert, als er hinzufügte: „Also, aufs Ballett?"
Ich verkniff mir ein Grinsen. „Ich fand Ballett toll", antwortete ich und schaute Kyle an. Wir sind die Strasse hochgegangen und bogen nun in eine Seitengasse ab, in der die Häuser etwas enger standen. Doch es sah süss aus mit den verschiedenen Farben der Dächer und Kleider, die über den Balkons lagen. „Meine Eltern hatten mich immer an Aufführungen geschleppt und dann sagte ich, dass ich das auch können möchte."
Ich brach ab und fragte mich, ob ich ihn auch mit der Tangogeschichte langweilen sollte, aber er fragte von selbst nach: „Und das führte dann zu Tango?"
Ich lächelte. „Also Tango sah ich immer im Fernsehen. Ich fand die Röcke der Frauen so toll. Als ich dann begonnen habe, merkte ich aber schnell, dass man die Röcke nicht immer trägt."
Kyle lachte und ich hatte fast das Gefühl, er lachte mich aus. „Jetzt bist du enttäuscht?"
Ich schüttete den Kopf und lachte mit. „Nein, Tango ist trotzdem toll. Wie war das denn bei dir?" Ich hatte das Gefühl, er wusste viel mehr über mich als ich über ihn. Ausser, dass er die Charaktere in Filmen mit dem realen Namen ansprach.
Kyle überlegte einen Moment und fuhr sich wieder mit der Hand durch die Haare, doch eine Haarsträhne blieb in seinem Gesicht – ihn störte es vielleicht, aber mich nicht, es verlieh ihm einen draufgängerischen Ausdruck. „Ich wollte erst so Street-Dance machen", sagte er dann und ich hob erstaunt die Augenbrauen. Kyle sah überhaupt nicht nach dem Typ zu Street Dance aus, er passte viel mehr in Gesellschaftstänze. „Aber es gefiel mir nicht, auch wenn viele Kumpels das machten. Dann hab ich den Tangokurs ausgeschrieben gesehen und bin hingegangen", schloss er seine Erklärung und ich lächelte leicht. Es war irgendwie süss, dass er wegen seinen Kumpels Street Dance machen wollte. Aber nicht jeder konnte das und es war offenbar nicht sein Sport gewesen. „Gute Entscheidung", meinte ich. Er war echt gut im Tango und es wäre schade gewesen, wenn er sein Leben lang Street Dance versucht hätte, um cool zu sein. Kyle lächelte ein wenig und zeigte denn schräg neben sich. „Schau, hier ist das Café" meinte er und schaute mich leicht nervös an.
* * *
Das Video ist einer meiner absoluten Lieblingstangostücke - okay, eigentlich ist es eine Mischung aus Bachata und Tango. Kennt jemand von euch Bachata? :) ;)
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Küsse im 2/4-Takt
Romance••• Der Titel wurde von "Mein erster Fehler - Nur eine Nacht" zu "Küsse im 2/4-Takt" geändert! ••• Eigentlich tanzt Malia in ihrer Freizeit leidenschaftlich Tango, und ruiniert sich nicht mit Erfolg ihr Leben. Aber eines nachts macht sie unter dem E...