09- Schutzmembran

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Black Streets
09- Schutzmembran

»Unsere Mutter ist tot.«
Meine Worte klingen kalt und sie treffen Buke so hart, dass sie mit einem Mal anfängt, heftig zu schluchzen. Sie schüttelt den Kopf, als würde sie die Wahrheit wegschütteln. »Nein.«
»Doch.«
Ich versuche es nicht an mich ranzulassen. Allein der Gedanke, dass meine Mutter am Leben sein könnte, weckt in mit Gefühle auf, die ich in die hintersten Schubladen gequetscht hatte. »Das hier, Buke, ist kein Märchenland und wir sind keine Heldinnen. Wir sind gar nichts. Wir schaffen es nicht einmal aus dieser Scheiße rauszukommen. Komm jetzt nicht auch noch mit Wunschvorstellungen. Unsere Probleme reichen uns.«

Ich will mich aufrichten, aber mein Körper lässt es nicht zu. »Buke, ich bin erschöpft. Lässt du mich noch eine Weile schlafen?«
»Sie ist nicht tot, Izem. Sie ist abgehauen und sie denkt, sie wäre erfolgreich gewesen. Er aber weiß es und das ist seine Waffe gegen uns.«
»Komm zu dir. Das kann alles gar nicht sein, okay? Und wenn, was will ich von einer Mutter, die mich bei einem kranken Psychopathen lässt?«

Sie öffnet den Mund und schließt ihn, während ihre Lippen beben. »Was willst du von einer Schwester, die dich verlassen hatte?«
»Du hast es wegen Ümit getan und du wusstest, dass er dich findet. Du wolltest nur bis dahin dein Baby auf die Welt bringen. Bevor er es umbringen kann.«
»Ich lasse dich schlafen.«
Sie sprintet aus dem Raum und ich weiß, dass sie hinter dieser Tür zu weinen beginnt.

Es ist, als würde das sowieso schon weiße Zimmer noch farbloser werden, während sie geht.
Menschen brauchen jemanden, der ihnen Halt gibt und Hoffnung. All die Jahre habe ich zu Buke aufgeblickt. Erst als sie weg war, wusste ich, wie sehr ich sie brauche. Kann es sein, dass sie an unserer Mutter deshalb hängt? Dass es ihr einfacher fällt, so an Kräften zu bleiben, mit dem Gedanken, unsere Mutter zu sehen?

Vielleicht sollte ich zur Polizei und alles beenden. Was danach kommt, kann nicht mehr schlimmer sein, als das, was passiert ist. Es kann nur noch besser werden. Das denke ich und daran will ich fest glauben, aber Bukes Wahnvorstellungen haben sich schon in einen meiner Gehirnzellen festgesetzt und ich frage mich, ob meine Mutter wirklich tot ist.

Auf ihrer Beerdigung waren wir nicht gewesen. Es wäre zu teuer gewesen, Flugtickets zu besorgen, hatte der großzügige Stiefvater gemeint. Ob es eine Lüge war?

Ich schlafe irgendwann ein oder falle in eine Art Trance. Da bin ich mir nicht so sicher. Entweder ist es ein Traum, der so verschwommen ist oder ich kriege meine Augen nicht auf. Es ist, als seien meine Ohren mit Watte gefüllt. Vielleicht liege ich auch in einer dicken Membran eingehüllt und lausche den Stimmen außerhalb. Es geht mir gut in diesem Fleck, ich fühle mich beinahe sicher. Aber irgendetwas durchdringt die Membran, ohne diese zu zerstören, und dann spüre ich eine Art Kuss auf meinem Scheitel. Es ist ein schöner Traum, der mich zum Lächeln bringt.

Irgendwann kann ich mich wieder einigermaßen bewegen. Es tut immer noch weh, aber nicht schlimm genug, dass der Schmerz mich an das Bett bindet. Ich fühle mich wie eine Leiche, als ich den Gang hinunterlaufe und draußen am Gelände stehen bleibe.

Der Wind weht durch mein Haar. Ich bin so leicht, ich würde schweben, wenn ich die letzte Last dieser Wahrheit aus meinem Mund bekommen könnte.
»Was ist denn mit dir passiert?«, ertönt der Klang einer rauen mir entfernt bekannten Stimme. Ich sehe, wie dieser Emir sich neben mich stellt und mich mustert.
»Folgst du mir?«, frage ich ihn und lege den Kopf schief. Vielleicht sollte ich lieber rein und ihn ignorieren. Der wage Traum fällt mir ein und der Kuss auf meinem Scheitel. »Warst du in meinem Zimmer?«

»Vielleicht bin ich ein Stalker«, versucht er geheimnisvoll zu wirken, macht es aber kaputt, indem er sich nicht halten kann und lachen muss. »Aber nicht deiner. Ich bin einem alten Freund gefolgt und der Weg hat mich hierher geführt.«
»Einem alten Freund?« Etwas originelleres ist ihm nicht eingefallen?
Er nickt bekräftigend, schiebt die Hände in die Hosentasche. »Ich glaube, uns trennt die Angst. Er hat Angst, dass ich ihm seine Welt kaputt mache. Ich habe Angst, dass-«
Er stoppt kurz und holt dabei eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche. »Dass er die Trümmern, in die er mich gelegt hat, noch weiter zerschlägt. Darin ist er gut, weißt du. Manchmal hat er einfach kein Erbamen.«

Es dauert nicht lange, da hat er den Stümmel zwischen die Lippen gelegt und zündet ihn an. »Willst du auch eine?«
  Ich schüttele den Kopf und ziehe dabei die dünne Jacke, die ich trage, näher an meinen Körper.
  »Es tut gut«, behauptet er. »Wenn das Leben beschissen ist, kann man so wenigstens einen Augenblick verbessern. Ist es das nicht wert?«

Ich antworte ihm nicht, sondern humpele wieder zurück in mein Zimmer. Dieser Typ ist mir nicht geheuer.
  Lamia kommt strahlend und bringt Ömer mit. »Berna und Cansel wollten auch kommen, aber haben es zeitlich nicht geschafft.«
  Ich nicke, will eigentlich niemanden sehen.
  »Und ich bin eigentlich gekommen, weil ich dachte, Berna kommt«, scherzt Ömer und lässt sich auf den Stuhl neben mir nieder. Lamia setzt sich auf die Bettkante und drückt mich. »Wurde das Arschgesicht geschnappt?«
  Ich schüttele den Kopf. »Hab immer noch keinerlei Erinnerungen.«

»Du rauchst?«, kommt plötzlich die Frage von Ömer, der geschockt eine Zigarettenschachtel in der Hand hält. Er hat die aus meiner Jackentasche geholt und ich habe eine Ahnung, von wem sie gekommen sein könnte. Emir.
  »Die- gehört meinem Stiefvater«, erkläre ich knapp und Ömer legt sie wieder zurück.
  »Fang ja nicht damit an«, meint er dann, mich lehren zu müssen. »Wenn du ein Problem hast, hast du Freunde, die dir bis in die Nacht zuhören und 24 Stunden erreichbar sind.«
Lamia nickt zustimmend.
»Dafür müsstest du mir nur Berna klarmachen«, fügt er lachend hinzu und erntet einen Schlag von Lamia.

Ich sträube mich davor, wieder "nach Hause" zu müssen, aber der Tag kommt, an dem ich zurück muss. Die Straßen sind genauso schwarz wie zuvor und das Haus genauso schweigsam über die Qualen, die es beinhaltet. Der Stiefvater ist nicht zu Hause. Elias sitzt im Wohnzimmer und zieht sich irgendeine Show rein.

Kaum hab ich meine Sachen oben abgelegt, sprinte ich wieder runter und bekomme Herzklopfen dabei, als ich in den Bus steige. Ich werde ihn wiedersehen. Ich werde dieses kleine Wunder wieder in den Armen halten. Bevor ich das Krankenhaus verlassen habe, habe ich Nurgül Bescheid gegeben, dass ich heute da sein kann.

Der Türsteher am Einfang des Anwesens erkennt mich. »Nurgül hat gesagt, dass du kommst. Sie müsste beim Kind sein, geh lieber direkt zu ihr.«
  Ich nicke lächelnd und betrete das große Gebäude. Es kommt mir nicht mehr fremd und falsch vor, wie am ersten Tag. Im großen Flur am Eingang, welcher in weißen Tönen gehalten wird, bleibe ich vorerst stehen. Ich weiß, dass sie zweite Tür rechts in die Küche führte und links sofort der wohnzimerartige Saal bestand. Die Treppen war ich nur einmal in Begleitung mit Nurgül gestiegen. Welches Zimmer war doch gleich Ümits?

Ich bewege mich in Richtung Wohnzimmer und stoppe dann abrupt. Hülya regt sich gerade drinnen auf. Wäre es dann günstig, reinzugehen oder soll ich abwarten, bis sie sich beruhigt?
»Ich kann hier kein Kind aufziehen!«, sagt sie und dabei bebte ihre Stimme heftig. »Ich kann nicht. Was denkt sich Nurgül nur?«
»Es wirft ein gutes Licht, ein behindertes Baby zu adoptieren. Ich glaube, das denkt sie«, antwortet Meral.
»Wenn es das wäre!«, ruft Hülya und man hört dabei, wie sie beinahe stampfend auf und ab läuft. »Als ob wir ein gutes Licht brauchen.«
»Das Baby müsste doch nicht lange hierbleiben.«
  »Angeblich wollte sie mir helfen, ihrer Schwester helfen«, spottet Hülya, redet vermutlich über Nurgül. »Dabei ist sie das Problem, sie kann sich nicht einmal selbst helfen. Kommt her mit einer Last!«

Ich weiß nicht, was ich tun soll und gehe daher die Treppen hoch. Nurgül meinte einmal, ich solle mich wie in meinem eigenen Haus bewegen. Keine Ahnung, wie ernst sie es meint. In diesem Anwesen keiner es so zu meinen, wie er es sagt. Hülyas Worte kreisen im meinem Kopf. Wo ist mein Neffe bloß reingeraten?

Als ich oben ankomme, blicke ich zu den vielen Türen.
Welche Tür war es noch einmal- zweite Tür rechts?
Um sicher zu gehen, klopfe ich leise an der weißen Tür. Will aber auch Ümit nicht wecken, falls er schläft.

Meine Finger umschließen die Türklinke, die ich langsam runterdrücke, um ja kein Laut von mir zu geben.

»Was tust du da?«, zischt eine zorngeladene Stimme hinter meinem Rücken, sodass ich aufschrecke.
Hülya steht dort, sie kann sich kaum im Griff halten. »Wag es ja nie wieder, diese Tür öffnen zu wollen!«

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