Black Streets
38- hoffnungslos»Wie konntest du nur«, flüstert der Stiefonkel wie paralysiert und starrt seinen Bruder an, während er seine Dienstwaffe wieder in den Händen hält. Dann geht er mit dem Stiefvater mit, der sich noch immer wehrt und versucht zu befreien.
Wie konnte er nur?
Jetzt sieht er einer Bestie vollkommen ähnlich. Er schreit herum, aber ich blende seine Worte vollkommen aus. Mein Blick ist auf die Zimmertür gerichtet, aus der er rausgezerrt wurde.
Ich mache einen Schritt darauf zu und die Welt dreht sich. Oben ist unten und unten oben. Ich verliere das Gleichgewicht, stütze mich an die Wand, um nicht zu fallen, und versuche zu atmen.
Ärzte versammeln sich in diesen Gang. Alles um mich herum passiert so schnell, während ich mich in Zeitlupe bewege. Jemand stoßt gegen meine Schulter und ich falle durch die Wucht auf den Boden. Ich spüre den Aufprall nicht einmal. Meine Augen sind weit aufgerissen, mein Mund offen.
»Eine Krankenschwester«, höre ich. Es sind so viele Menschen hier, ich kann keine Stimme einordnen.
»Ein Baby«, höre ich und mir wird so schlecht, dass ich mich beinahe übergeben muss. Jetzt, wo ich auf dem Boden sitze, sehe ich, wie Blut aus dem Raum fließt. Blut. Rot. So viel Blut, so viel rot. So viel. So viel.Die Krankenschwester wird in Eile aus den Raum gebracht und meine Sicht verschwimmt. Je schneller ich atme, desto mehr lauter kleiner schwarzer Punkte tanzen vor meinen Augen. Ich atme zu schnell, Sauerstoff erreicht meine Lungen nicht.
»Für das Baby ist es zu spät«, sagen sie und ich glaube ihnen nicht. Ich glaube ihnen nicht und es kommt wieder Kraft in meine Arme, sodass ich mich vom Boden stoße und zuerst torkelnd, beinahe über die eigenen Beine stolpernd, dann immer schneller in den Raum stürme. Egal wer, egal was auf meinem Weg ist, ich stoße es zur Seite, um voranzukommen. Keiner kann mich stoppen.
Und dann ist da dieser Moment, in dem alles so still und langsam ist, dass du das Gefühl bekommst, du könntest sehen, wie die Moleküle in der Luft sich bewegen. Dein Herz bleibt stehen, du hörst auf zu atmen, für einen Augenblick sogar zu leben. Es klingt nicht wahr und eine Seite in dir hofft, dass es nur ein Witz ist, während die andere weiß, das ist pure Realität. Sie ist präsent und unumkehrbar.
Ich kann es nicht fassen. Er ist dort- auf dem Bett liegt ein so kleiner Körper, dass er wie der einer Puppe wirkt. Er ist leblos. Die kleinen Arme und Beine bewegen sich nicht. Er war immer so ruhig, man könnte denken, er schläft. Nur dass die rosigen Wangen blass sind und er nicht mehr atmet und überall Blut klebt. Sein Blut. Wie kann aus einem winzigen Körper so viel Blut rauskommen?
Es ist keine Flut. Es ist etwas komplett anderes, etwas in einem völlig neuen Schmerzpegel. Du schreist, aber hörst deinen eigenen Schrei nicht und dein Körper lässt einfach nach, die Welt lässt nach.
Meine Knie fallen auf den harten Boden, während ich mich noch am Bett festhalte, um nicht ganz zu stürzen. Zuerst spüre ich Hände um mich, die ich abwimmele. Ich kralle mich am Bett fest, damit sie mich nicht losreißen können- und dann höre ich es ganz laut.
Bukes Schrei.Ich drehe meinen Kopf zu ihr, sehe, wie sie die Hände vor dem Gesicht hält und die Tränen literweise aus den Augen strömen. Elias umschließt sie mit den Armen, hält sie ganz fest.
»Nein!«, schreit sie die Seele aus dem Leib und versucht sich aus seinem Griff loszureißen, während sie immer wiederholt, dass das alles nicht sein kann und ihr Baby sie braucht.
»Lass mich los, Elias. Ich muss zu Ümit. Lass mich los.«Das Szenario brennt sich in meine Augen. Wie Buke krampfhaft kämpft und ihre Finger in die Oberschenkel krallt und ihre Schreie immer verzweifelter werden. Wie Elias sie immer fester hält, immer wieder ihren Namen nennt, um sie zur Besinnung zu bringen und die Augen schließt, weil er das nicht mehr mitansehen kann.
Meine Finger lassen nach und ich falle komplett zu Boden, während Sanitäter reinstürmen und versuchen, Buke zu beruhigen, die hyperventiliert und um sich schlägt. »Es war alles gut. Es war doch alles gut. Wie konnte Ümit? Wie- wie konnte ich-«
Sie wird an den Armen und Beinen festgehalten, wie ein gefährliches Tier und eine der Sanitäter gibt ihr eine Spritze. Es ist befremdlich zu sehen, wie sie immer weniger Kraft zum kämpfen hat und irgendwann ihr Körper ganz einsackt. Eine zerstörte Mutter vor dem Bett ihres toten Kindes.Sie bringen sie weg und ich bin immer noch weggetreten. Das ist nicht passiert, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Das alles ist niemals passiert.
»Das ist nicht echt«, wimmere ich und wippe den Oberkörper vor und zurück, während ich mich immer noch am Bett klammere. »Das ist nicht echt. Das ist nicht echt. Nicht echt. Nicht echt. Nicht echt.«»Izem«, realisiert Elias mich und hockt sich zu mir. »Izem, komm zu dir. Sieh mich an.«
Ich will nicht. Ich will nicht mehr da sein. Ich beginne laut zu schluchzen und leiste Widerstand, als mich Elias auf die Beine bringen will.
»Nein, ich bleibe hier«, widerspreche ich, als würde Ümit verschwinden, wenn ich nicht bei ihm bleibe. »Sie hat ihn mit anvertraut. Keinem anderen. Mir. Ich muss auf ihn aufpassen.«»Izem«, flüstert er und die Tränen fließen wie Blut aus den Augen.
»Ich bringe dir etwas zu trinken und dann stehen wir auf, in Ordnung?«, fragt er mich behutsam und verlässt eilig den Raum.Ich stehe auf, meine Beine sind noch wackelig. Mit den Händen stütze ich mich am Bett ab und öffne nach einer Überwindung die Decke, die seinen Körper verdeckt. Der Stoff ist noch voller Blut. Babyblut. Blut eines unschuldigen Kindes, das noch ein ganzes Leben vor sich hatte.
»Nein«, piepse ich. Jemand wirbelt mich umher, sodass ich vor einer Brust stehe und drückt mich an sich. Ich denke an eine Zukunft, die wir nicht mehr haben können und all das, was hätte sein können.
»Tu das nicht, Izem«, flüstert er und dann weint er selbst und ich weine auch, halte mich an seinem Shirt fest und lasse mich fallen.
»Es tut so weh«, schluchze ich laut und schmerzverzerrt. »Weißt du«, beginne ich und sage das banalste, das es gibt. »Er hatte meine Augen.«Ümit war meine Hoffnung- und meine Hoffnung hat gerade diese Welt verlassen.
Ich denke an all das Blut, rieche es, höre dauernd den Schuss und Ümits Schreie in meinem Kopf und das alles schmeckt so bitter, dass mir schlecht wird und mir wird so schlecht, dass ich mich übergeben muss.
Danach ist die Welt so still, dass ich mein Herz zerbrechen höre. In meinem Leben wurde ich oft verletzt. Ich wurde oft erniedrigt, aber nie konnte mich jemand seelisch so fertigmachen. Bis zu diesem Moment habe ich gar nicht bemerkt, wie sehr er mir etwas bedeutet hat. Ich war Ümits Tante. Im türkischen heißt es, die Tante ist die Mutterhälfte. Ich verstehe jetzt, was das bedeutet. Es bedeutet, dass er ein Teil von mir war und ich war ein Teil von ihm- und jetzt ist er weg.
Ich weiß nicht, ob ich danach schlafe oder bewusstlos werde oder wach bin und es nur nicht bemerke, weil ich mich so tot fühle.
Ich liege neben Buke, die schläft und merke, wie kaputt sie ist. Sie riecht immer noch nach Nektarinen und generell nach Frühling, aber es fühlt sich so an, als wäre der Frühling in ihr verbrannt. Sie quält sich, zieht die Brauen zusammen im Schlaf. Sollten die Beruhigungsmittel nicht gerade das vermeiden?
Ich streiche ihr die Strähne aus dem Gesicht. »Es ist alles gut«, flüstere ich, wie sie es früher bei mir getan hat. Zumindest im Schlaf soll sie eine Welt betreten, in der Ruhe sie umhüllt.
________________________
Es tut mir leid.
Hasst mich nicht.
DU LIEST GERADE
Black Streets
Teen FictionIzems Welt liegt in Trümmern auf einer dieser schwarzen Straßen, auf denen kalter Wind weht. Ihre Hoffnung verlässt sie, eingepackt in dem Koffer, den ihre Schwester hektisch dem Fahrer reicht. Aber wieso verlässt sie sie? Wieso geht sie allein, ob...