Basstone

Kapitel 2

Schon seit mehreren Tagen überlegte Avriel, wohin er eigentlich reisen wollte. Er brauchte Ruhe. Es musste irgendein Ort sein, an dem nicht allzu viele Fans lauerten und an dem er sich wohlfühlen konnte.
Lange suchte er im Internet nach Reisezielen, die seinen Wünschen entsprachen, bis er schließlich auf eine deutsche Seite stieß. Auf ihr war ein Ort beschrieben, der sowohl durch seine lange Tradition als Fischerdorf, als auch durch die ruhige Umgebung und das Meer mit einem langen Sandstrand gekennzeichnet war. Die Schilderungen gefielen dem Sänger, denn er hatte das Meer schon immer geliebt und in Deutschland war er bisher auch nur einmal gewesen, zur Pentatonix-Tour. So forschte Avi Kaplan nach weiteren Informationen über diese Stadt.
Es war bereits Nacht geworden, als er endlich mit seinen Recherchen fertig war. Kevin, Scott, Mitchell und Kirstie waren bereits zu Bett gegangen und auch er verspürte allmählich eine anwachsende Müdigkeit.
Schwerfällig raffte er sich von dem weichen Ledersofa, auf dem er gerade noch gelegen hatte, auf, stellte den Laptop ausgeschaltet auf den Küchentisch und ging in das geräumige Bad.

Es war früh am Morgen, die Sonne ging gerade über den Dächern von Los Angeles auf und tauchte sie in ein leuchtendes Orange. Avriel saß wieder einmal in dem Sessel und musterte die noch schlafende Stadt. Heute war er der Erste in dieser Wohnung, der den Weg aus dem Bett gefunden hatte. Der junge Mann genoss die Stille um sich herum. Jetzt wo alles geregelt war, fühlte er sich schon freier als noch vor einigen Tagen. Übermorgen würde sein Flieger starten, würde ihn von hier wegbringen. Zwei Monate wollte er in Warnemünde verweilen. Acht Wochen hatte er vor, dort seine Ruhe zu finden. Endlich würde er sich einmal nur auf sich selbst konzentrieren können. Keine Arbeit, keine Auftritte und Interviews, kaum Fans und eine wunderschöne Umgebung.
Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht. Seit der Buchung des Fluges nach Rostock und der, glücklicherweise recht unkomplizierten, Anmietung der gemütlichen und zugleich modernen Wohnung fühlte er die Last des Musikalltags mehr und mehr von seinen Schultern abfallen. Vor allem war er aber seinen Mitbewohnern und guten Freunden dankbar für diese Chance. Es war nicht selbstverständlich, dass sie so entgegenkommend reagiert hatten. Sie hätten ihm genauso gut Vorwürfe machen können, denn schließlich konnten sie während seiner Pause auch keine Videos produzieren und mussten für zwei Monate alles stilllegen. Er war ein fester Teil ihrer gemeinsamen Band und dieser Teil war nicht einfach ersetzbar.
Ein kleines Räuspern riss den bärtigen Mann aus seinen Gedanken, jedoch drehte er sich nicht in die Richtung um, aus der das Geräusch kam. Sicher war es Kirstie. Sie war eine absolute Frühaufsteherin, ebenso wie er, wenn es ihm gut ging.
"Du bist schon wach?", flüsterte sie.
Avi nickte nur.
Leise, beinahe schleichend trat die blondhaarige Frau neben ihn und schaute aus dem Fenster. Eine Weile schwiegen sie.
Kirstie war es, die schließlich die Stille durchbrach: "Dir scheint es schon wieder ein wenig besser zu gehen, wenn du wieder so früh aufstehen kannst."
Nun widmete ihr der Braunhaarige mit den schulterlangen Haaren doch einen Blick und sagte: "Ja. Ich bin nicht mehr ganz so müde."
"Das freut mich.", lächelte sie, "Wollen wir schon frühstücken oder doch lieber auf die anderen warten?"
Kurz überlegte der Sänger, dann meinte er: "Wir können ja schon mal Kaffee kochen und den Tisch decken. Ich bin sicher, dass zumindest Scott von dem Kaffeegeruch wach wird." Er musste grinsen.
"Stimmt.", lachte die Frau nun etwas lauter, "Dann los!"
Während die beiden Freunde den Tisch deckten, redeten sie viel über die anstehende Pause. Kirstie erzählte davon, was sie mit Mitchell und Scott alles plante zu unternehmen und Avi konnte sich hier und da ein Grinsen nicht verkneifen. Er war so unglaublich froh darüber, dass ihm keiner seine Müdigkeit übel nahm, vor allem nicht Kirstie. Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden und im Laufe der letzten drei Jahre war sie zu einer guten, wenn nicht sogar zu seiner besten Freundin geworden. Wenn sie anders reagiert hätte, wäre das für Avi das Schlimmste gewesen, nicht die Tatsache, vielleicht seine Karriere aufs Spiel gesetzt zu haben. In dieser Hinsicht hätte sich sicher auch etwas Neues gefunden, aber die junge Sängerin und die anderen drei Bandmitglieder waren als Freunde nicht zu ersetzen.
Die Blonde erzählte weiter, bis Scott die Küche betrat.
"Habe ich es nicht gesagt? Zumindest ihn bekommen wir mit dem Kaffee aus dem Bett.", gab Avi von seinem Barhocker aus grinsend zu dem schläfrigen Anblick des gerade eben erst Aufgestandenen dazu.
"Und mich kriegt ihr mit eurem Gequatsche aus den Federn.", murrte Kevin noch halb schlafend.
Nun grinste der Basssänger auch ihn an.
"Guten Morgen."
"Hm...", gab dieser nur zurück und setzte sich neben ihn auf einen der freien Barhocker, schnappte sich ein Toast und begann dieses zu belegen.
"Sollen wir Mitchi schlafen lassen?", fragte Kirstie plötzlich.
Die anderen schienen zu überlegen.
"Wir haben doch heute eh nichts vor, oder?", entgegnete Avriel.
Alle nickten.
"Dann kann er ruhig noch schlafen. Soll er sehen, was an Essen für ihn übrig bleibt.", zwinkerte er den anderen zu.
Mit einem verschmitzten Grinsen auf den Mündern wandten sich alle wieder ihren Sandwiches zu.

Wieder ein neuer Tag. Wieder raffte sich Sina murrend aus ihrem Bett auf und versuchte ihre widerspenstigen Haare zu zähmen, um einigermaßen passabel auszusehen. Heute war Donnerstag und in einer Stunde musste sie zur Arbeit.
Eilig, wie jeden Morgen, zog sie sich an, machte sich etwas zu essen und schminkte sich. Dann verließ sie auch schon das Haus. Noch wohnte sie in einer Mietwohnung, doch schon bald würde sie in ihrem frisch renovierten Haus direkt über ihrem eigenen Café zuhause sein.
Bei diesem Gedanken huschte ihr ein Lächeln über die Lippen. Viel Geld fehlte nicht mehr, dann könnte die Frau mit den langen, rotblonden Haaren mit den grundlegenden Arbeiten wie streichen, dämmen und Fußboden verlegen beginnen. Ausgerümpelt hatte sie das Haus mithilfe ihrer Geschwister bereits.
Kurz bevor sie an der Touristeninformation ankam, warf sie noch einmal einen Blick auf ihr Handy. Nur eine Nachricht. Sie war von Josua, der ihr mitteilte, dass ihre erste Führung heute um 11:00 Uhr war.
Gut, dann habe ich noch ein wenig Zeit, um mich darauf vorzubereiten., dachte Sina bei sich, als sie ihren vorübergehenden Arbeitsplatz betrat.

Alles war schon gepackt und stand im Flur bereit. Selbst seine geliebte Gitarre hatte Avi Kaplan bereits ordentlich verstaut. In wenigen Stunden würde endlich sein Flug gehen, doch vorher sollte er sich wohl noch etwas ausruhen. Scott war mit Kirstie und Mitchell shoppen gegangen und Kevin war bereits zu seinen Eltern gefahren. So hatte er alle Ruhe der Welt.
Avriel beschloss, sich noch ein bisschen aufs Ohr zu hauen, bevor die anderen zurückkamen. Er lief in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. Heute Nacht um 23:50 Uhr ging sein Flug. Bis dahin blieben ihm noch knapp neun Stunden, in denen er zu schlafen gedachte, zumindest eine Weile.