Ungeduldig wartete der Sänger vor der Touristeninformation auf den Beginn der Führung, so wie ihn der junge, blonde Mann angewiesen hatte zu tun. Nach und nach hatten sich immer mehr Menschen vor dem modernen Gebäude versammelt, bis die Gruppe auf fünfundzwanzig Personen angewachsen war. Hier in einer doch nicht unbeträchtlichen Menge zu stehen, ließ Avriel wieder etwas nervöser werden. Noch hatte er sich ziemlich im Hintergrund gehalten, doch wenn die Stadtführung erst einmal begonnen hatte, würde er sicher die ein oder andere Frage stellen wollen und sich somit, zumindest für einen kleinen Augenblick, in den Vordergrund rücken. Dabei lief er Gefahr, von einer der anwesenden Personen erkannt zu werden. Auch wenn der Großteil von ihnen seiner Meinung nach zu alt war um ihn zu erkennen, waren auch einige Jugendliche darunter und gerade in dieser Altersgruppe erfreute sich seine Band Pentatonix weltweit großer Beliebtheit.
Misstrauisch begutachtete Avi die Menschen, mit denen er die nächsten eineinhalb Stunden verbringen würde, bis er die helle Stimme einer Frau vernahm.
"Guten Tag, werte Gäste. Ich heiße sie alle herzlich willkommen in der schönen Ostseestadt Warnemünde. Ich bin Sina Bardal und werde sie die nächsten Stunden mit interessanten Informationen rund um die Sehenswürdigkeiten und die Geschichte dieser Stadt versorgen."
Die junge Frau mit den Sommersprossen auf Wangen und Nase setzte ein freundliches Lächeln auf und bedeutete den Touristen, ihr zu folgen.
Avriel hatte sich, während sie gesprochen hatte, näher an sie heranbewegt, um das Gesicht der Stadtführerin besser sehen zu können. Als er ihre rotblonden Haare erkannte, erstarrte der Basssänger einen Moment. Sie war es, die gestern Nachmittag an den Dünen gesessen hatte, ein Buch in der Hand und die graue Mütze tief ins Gesicht gezogen, da war er sich sicher.
Heute wehten ihre Locken nicht im Wind. Sie waren zu einem strengen Dutt nach hinten gebunden, um den kleinen Brisen keine Chance zu lassen, sie zu ergreifen und mit ihnen zu spielen. Der schwarze Mantel, den sie gerade trug, verlieh ihr einen förmlichen, geschäftigen Ausdruck, so gänzlich anders als gestern... Sie strahlte nicht mehr diese unverwechselbare Selbstzufriedenheit aus, die Avriel selbst fehlte. Jetzt war sie unnahbar, wie jeder andere um ihn herum. Das was ihm so sehr an ihr gefallen hatte, war einer einfachen Distanz gewichen...
Während der nächsten eineinhalb Stunden folgte Avi Kaplan schweigend der Führung. Er hörte interessiert zu, doch manchmal driftete seine Aufmerksamkeit ab, fixierte sich gänzlich auf die schöne Rothaarige. Immer wenn sich der Amerikaner dabei erwischte, wie er einzelne ihrer Sommersprossen musterte, schrak Avriel innerlich zusammen und wandte seinen Blick schnell ab.
So ging es, bis die Gruppe ihr Zusammenkommen an der Touristeninformation beendete. Die junge Frau, Sina, verabschiedete sich höflich von den fünfundzwanzig Personen, bevor sie strammen Schrittes aus dem Blickfeld des Acapella-Sängers verschwand.Sinas Meinung nach war ihre heutige Stadtführung sehr positiv verlaufen. Zugegebenermaßen fiel es ihr immer noch schwer, Kinder mit einzubeziehen, doch heute hatten selbst die Kleinsten die ein oder andere Frage gestellt. Aufmerksam waren die Urlauber ihren Ausführungen an den einzelnen Sehenswürdigkeiten gefolgt, nur einer nicht. Es war ein junger Mann ungefähr in ihrem Alter gewesen. Auf den ersten Blick glaubte sie, diesen abwesend verträumten Blick und die dunkelbraunen, halblangen Haare schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Komischerweise kam er ihr bekannt vor, doch Sina wusste nicht woher. Vielleicht war er ihr ja schon einmal über den Weg gelaufen. Diese verträumten Augen... Irgendetwas sagten sie ihr.
Nun war die rotblonde Frau bereits auf dem Weg zu ihrem Café. Heute Abend würde sie mit den Vorbereitungen für das Streichen, Tapezieren und Verputzen fertig sein. Schon bald würden die Räume des zweistöckigen Hauses nach ihren Vorstellungen bemalt sein und Sinas Traum würde langsam Gestalt annehmen.
Zufrieden schmunzelnd beschleunigte sie ihre Schritte. Von ihrem derzeitigen Arbeitsplatz war es nicht mehr weit bis zu dem Haus.Der Nachmittag verging schnell, sodass es auch bald schon wieder dämmerte. Avriel war nach der Stadtführung ohne bestimmtes Ziel durch die hellen Straßen Warnemündes gewandert, hatte lachende Gesichter und bunte Aufschriften gesehen, den Duft von frischem Kaffee und warmen Speisen vernommen und hatte sich doch seltsam einsam gefühlt. Seine Freunde und seine Familie waren weit weg von ihm und er kannte niemanden hier. Nur anonyme Gesichter ringsherum. So war er in seine Wohnung zurückgekehrt und grübelte wieder einmal über die letzten Monate nach. Ja, er hatte sich immer müde und kraftlos gefühlt, doch hatte Avi dort auch seine Familie um sich gehabt, die den jungen Sänger immer wieder davon ablenken konnte. Seit er hier in Deutschland war, spürte er keine Müdigkeit mehr und Avi Kaplan genoss es, auf die Straße gehen zu können ohne erkannt zu werden. Eigentlich sollte es ihm also gut gehen. Er war frei, ohne jegliche Verpflichtungen und ohne den unangenehmen Druck der Arbeit auf seinen Schultern. Er war anonym, wie jeder andere hier auch. Aber wieso fühlte er sich dann nicht so gut, wie er es zu Beginn erhofft hatte? Warum war die Erleichterung, endlich einmal für sich sein zu können, so schnell diesem eigenartigen Gefühl gewichen? Ja, er war anonym hier, doch das machte alles um den Basssänger herum unpersönlich und bedeutungslos. Nichts außer seiner Musik war hier etwas wert... Doch Avriel wollte nicht in Schwermut versinken, nicht schon wieder. Er beschloss also, erst einmal etwas zu essen, denn das hatte er den ganzen Tag über vernachlässigt. Seine Gedanken waren einfach woanders gewesen.
Der Mann mit den braunen Haaren ging zum Kühlschrank, holte sich Käse und die Wasserflasche heraus, schnappte sich eine Scheibe Toastbrot und ließ sich auf dem Barhocker nieder.
Während er aß zog Avi sein Handy aus der Hosentasche und schaute nach, ob es für ihn irgendwelche Nachrichten zu lesen gab. Als er Kirsties Nachricht öffnete, verschluckte sich Avriel beinahe an dem herzhaften Bissen, den er zuvor von dem Brot genommen hatte. Das Bild, das er gerade zu sehen bekam, war einfach zu komisch. Mitch und Scott, wie sie in Badehose auf Handtüchern neben dem Pool ihrer Dachterrasse lagen mit offenen Mündern und geschafften, schläfrigen Gesichtsausdrücken. Das Ganze war von Kirtsie mit Die beiden hier halten auch garnichts aus... ;) betitelt worden. Wie Avi sie doch alle vermisste, jetzt schon nach den ersten vier Tagen...
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Basstone
FanfictionEine kurze Auszeit von all dem Rummel sollte es werden. Avi brauchte einmal Zeit für sich. Ohne Fans, ohne Pentatonix, ohne YouTube. Sein Ziel war Deutschland. Hier, so hoffte er, würde er in Ruhe abschalten können, doch dort geschah etwas, das sein...