Kapitel 45

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Auf dem Weg zur Touristeninformation begannen seine Hände immer mehr zu zittern. Josua würde auf ihn im Serviceraum warten, hatte er ihm gestern versichert. Nun war er auf dem Weg dorthin. Wieder und wieder schimpfte er sich selbst einen Feigling, auf diese Art an Sinas Nummer zu gelangen, doch er wusste sich nicht anders zu helfen. Avi Kaplan brachte es einfach nicht übers Herz, ihr zu beichten, dass er fort musste, in drei Tagen schon. Er hatte Angst vor ihrer Reaktion, angst selbst nicht mit dieser leben zu können...
Während er weiter lief ballte er seine Hände zu Fäusten. Vielleicht würden sie so aufhören zu zittern...
Noch wusste die schöne Rothaarige nichts von dieser Aktion und das sollte auch so bleiben. Er würde Josua, auch wenn es ihm schwerfallen würde, Wohl oder Übel darum bitten müssen, es für sich zu behalten.
Avi Kaplan entspannte seine Fäuste wieder und hob seine eine Hand stattdessen hoch zu der metallenen Klinke der Eingangstür. Er atmete tief durch. Der Braunhaarige wusste, dass das folgende Gespräch nicht einfach werden würde, für beide Seiten.
In Gedanken ging er noch einmal die Sätze, die er sich für diesen Moment zurechtgelegt hatte, durch, dann öffnete er schweren Herzens die Tür und betrat Josuas Arbeitsort.

"Ich verstehe ja, dass du zurück musst, aber verlangst du gerade ernsthaft von mir, dass ich dir einfach so alles gebe, was du haben willst, nur damit du dann ohne ein Wort an Sina verschwinden kannst?!", versicherte sich Josua noch einmal, aber nicht ohne einen deutlich vorwurfsvoll klingenden Ton in seine Stimme zu legen.
"Es... Es ist nicht so einfach, wie du denkst.", versuchte sich Avi zu verteidigen.
"Oh doch, das ist es! Wenn du DAS tust, wird es Sina das Herz brechen und das kann ich nicht zulassen!"
Der Mann vor ihm seufzte.
"Sie liebt dich, Avriel. Sie liebt dich mehr als alles andere. Tu ihr das nicht an."
"Mir geht es doch genau so, aber ich kann nicht mit ihr reden.", gestand er. "Ich habe Angst vor ihrer Reaktion... Bitte, Josua. Bitte gib mir ihre Nummer. Ich werde mich bei ihr melden, Tag und Nacht, egal wie früh es gerade bei uns ist.", vertiefte Avi Kaplan seine Bitte noch einmal.
Noch immer hatte der Blondhaarige einen skeptischen Ausdruck auf seinem Gesicht.
"Ich könnte ihr nie weh tun, bitte glaub mir. Es würde mir selbst Schmerzen zufügen. Bitte, Josua."
Noch einmal seufzte der Blonde.
"Also gut. Sina vertraut in dich sogar mehr, als in sich selbst. Ich werde dir deswegen auch ein wenig mehr Vertrauen entgegenbringen, aber bitte brich ihr nicht das Herz.", meinte der Mann mit den blauen Augen, während er sich ein Stück Papier und einen Stift suchte.
"Vielen Dank.", war Avis Antwort darauf. Am liebsten wäre er Josua um den Hals gefallen und hätte ihm noch tausende Male mehr seinen Dank ausgesprochen, doch er glaubte kaum, dass es seinem Gegenüber sonderlich gefallen würde, also hielt er sich zurück.
Schweigend schrieb er Sinas Nummer und ihre, dem amerikanischen Sänger schon bekannte, Adresse auf einen länglichen Schnipsel Papier, reichte ihm diesen und musterte ihn ein letztes Mal.
"Brich ihr nicht das Herz.", wiederholte er ernst.
"Das werde ich nicht."
Kurz musterten sich die beiden Männer noch, dann wandte sich Avriel unter weiterem Bedanken ab und verließ das Haus.
Kaum war er wieder auf die Straße getreten, machte sich Erleichterung in ihm breit. Ja, das Gespräch war alles andere als leicht gewesen und doch hielt er nun das Papier in den Händen, worauf das stand, was er hatte wissen wollen. Ein Gemisch aus Emotionen erfüllte ihn. Avriel fühlte sich gleichzeitig gut und irgendwie schuldig. Er hätte Luftsprünge machen können vor Freude und doch zog ihn etwas in ihm nach unten. Keines der beiden Gefühle überwog das andere, sie wechselten sich nur stetig ab.
Auch wenn sich Avi Kaplan innerlich vollkommen verworren fühlte, legte er einen neutralen Ausdruck auf sein Gesicht. Keiner sollte ihm ansehen, was in ihm vorging, ganz besonders nicht Sina.
In einem gemütlichen Schritttempo ging er zurück zu seinem Appartement. Es war Zeit für ihn, mit dem Packen zu beginnen. Zumindest einen der beiden Koffer sollte er schon mal fertig geschlossen im Flur stehen haben, den anderen würde er morgen Vormittag schließen.

Auch wenn sie Avriel heute nicht gesehen hatte, war der Tag recht erfolgreich gewesen. Die frisch gekauften Möbel für Arbeits- und Gästezimmer standen, noch in Kisten verpackt, vor der hölzernen Treppe, bereit um hochgetragen zu werden, doch das würden Avriel und sie morgen gemeinsam machen. Für heute reichte es ihr.
Sina schnappte sich ihre Jacke, streichelte den kleinen Kater, der die ganze Zeit um ihre Beine strich, noch zum Abschied und verließ dann ihr Haus in Richtung des Strandes. Sie wusste garnicht mehr wirklich, wie lange sie schon nicht mehr allein dort gewesen ist. Es lag lange zurück, ein bis zwei Monate bestimmt. Der braunhaarige Mann war oft gemeinsam mit ihr dort gewesen, doch allein war es nochmal etwas Anderes.
Auch wenn sie Avriel nach nur einem Tag ohne ihn vermisste, genoss sie es, allein durch die Straßen und schließlich durch den weißen Sand zu gehen. Sie fühlte sich nicht einsam dabei, sondern verspürte eine tiefe innere Ruhe, die von den rauschenden Wellen des Meeres ausging und sie sanft umfing. Mit dem schlanken Mann fühlte sie diese Ruhe nicht, zu sehr konzentrierte sich ihr Körper in seiner Anwesenheit auf ihn...
Genussvoll sog die Rothaarige die kühle Meeresluft ein und lief näher an das beginnende Meer heran. Noch war die Sonne über dem glitzernden Wasser nicht dabei, hinter dem Horizont zu versinken. Sina hatte also noch ein wenig Zeit, bis sie diesen bezaubernden Ort wieder verlassen würde. Noch etwas, das sich von den Strandgängen mit Avriel unterschied. Mit ihm würde sie erst bei Sonnenuntergang hierher kommen und dann durch die strahlende Nacht laufen...
Die junge Frau seufzte leise. Sie vermisste ihn, doch war das nach nicht mal einem ganzen Tag nicht übertrieben?
Sie schüttelte ihren Kopf, um diese Gedanken endlich einmal für ein paar Minuten loszuwerden, auch wenn das nur schwer funktionieren wollte. Avriel hatte beinahe ihr ganzes Leben eingenommen, doch sie bereute es nicht. Er war so liebevoll, so freundlich zu ihr, so... perfekt.
Die junge Rothaarige musste bei dem Gedanken an die Anfänge ihrer Beziehung lachen. Sie hatte sich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht erklären können, was in ihr vorgegangen war, doch nun stand dies außer Frage. Sina wusste nicht, ob sie es damals nicht hatte erkennen können oder wollen, aber das war jetzt auch egal. Nun wusste sie, dass sie ihn liebte, tiefer und inniger, als jeden anderen vor ihm. Nur das zählte.
Mit einem Lächeln im Gesicht ließ sie die ersten Wellen ihre Füße umspülen.
Das Wasser war kalt und kniff in ihre Zehen, doch das störte sie nicht. Sie hatte es schon als Kind geliebt, ihre Füße in noch so kaltes Wasser zu halten, bis diese feuerrot wurden und die Kälte nicht mehr spürten. Baden gehen würde sie bei dem Wetter wahrscheinlich nicht, es war ja auch erst Anfang Mai.
Schweigend krempelte sie ihre Hosenbeine ein Stück weiter hoch und ging tiefer in die kalten Fluten, sodass nun auch ihre Waden die Kälte spürten.
Der Moment war perfekt. Perfekt, wie ihr ganzes Leben...

BasstoneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt