Kapitel 16

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Den ganzen Tag über hatte er sich nicht überwinden können, zu der Adresse zu gehen, die ihm der blonde Mann mit den blauen Augen heute Vormittag gegeben hatte. Avriel konnte sich das nicht erklären, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. War es die Aufregung, Sina wiederzusehen, oder doch eher die Verlegenheit, sie noch einmal ansprechen zu müssen? Er wusste es nicht. Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem.
Jetzt war es bereits dunkel geworden und Avi Kaplan war erneut auf dem Weg zu der Straße, in der ihr Haus stand. Mit jedem Schritt fühlte er ein stärker werdendes, mulmiges Gefühl in seiner Magengrube. Sollte er nicht vielleicht doch lieber umkehren und morgen hingehen?
Jetzt hab dich nicht so, Avi!, ermahnte er sich in Gedanken. Es war Sinas Buch und er wollte es ihr zurückgeben, also musste er dorthin gehen.
Du gibst ihr das Buch und gehst wieder. Ganz einfach.
Tiefer atmend näherte er sich weiter dem Haus. Nun konnte er bereits das Licht in einigen Fenstern erkennen. Sein Herz schlug immer schneller, je näher er seinem Ziel kam.
Schließlich blieb er vor der Tür des Hauses stehen. Durch die Fenster schimmerte Licht zu ihm hinaus, also musste Sina um diese Zeit noch dort sein, doch der Basssänger konnte nicht in das Innere des Hauses sehen. Die Folie, die an den Glasscheiben hing, gab nichts vom Geschehen hinter ihr preis. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als einfach an der Tür zu klopfen und zu hoffen, dass ihm die junge Frau öffnete.
Zögerlich hob er seine, vor Nervosität zitternde, Hand und ließ sie schließlich gegen das dunkle Holz schlagen.
Nichts geschah.
Ungeduldig verlagerte Avi sein Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen und starrte dabei die Tür an. Er klopfte noch einmal. Wieder öffnete sie sich nicht.
Avriel Kaplan wandte sich gerade zum Gehen, als er etwas hinter sich klicken hörte und so drehte er sich wieder um. Er schaute nun in das überraschte Gesicht einer, mit Farbflecken übersäten, Frau, die ihre wunderschönen rotblonden Haare zu einem straffen Zopf zusammengebunden hatte und nun direkt vor ihm stand. Er hatte nicht mehr erwartet, sie heute noch zu sehen und so bekam er erst keinen Ton heraus. Sein Mund war plötzlich stumm geworden. Er konnte sich nicht bewegen, nicht mit ihr reden, sie lediglich ansehen.
Mit der Zeit wurde ihr Blick immer skeptischer. Sie schien nicht so recht zu wissen, was sie von der jetzigen Situation halten sollte. Avriel hätte ihr gern erklärt warum er hier war und wie er sie überhaupt gefunden hatte, doch er bekam seine Lippen einfach nicht auseinander. Er spürte selbst, wie die Stille zwischen ihnen immer unangenehmer wurde, konnte sie aber nicht brechen. Der einzige Weg Sina zu zeigen, dass es einen driftigen Grund für sein unerwartetes Auftauchen hier vor ihrem Haus gab, noch dazu so spät abends, war ihr das Buch zu überreichen. Zwar wortlos, aber sie würde es sicher verstehen...
So schob Avriel vollkommen angespannt seine Hand in die rechte Jackentasche, um den grau eingebundenen Roman herauszuziehen und ihn der jungen Frau zu geben.
Diese begutachtete jede seiner Bewegungen mit Skepsis. Was sie wohl gerade von ihm dachte?
Der Basssänger versuchte immer wieder ein Wort, wenn es auch nur ein Einziges gewesen wäre, über seine Lippen zu bringen, doch er bekam nicht einmal seine Zähne auseinander und das war ihm unglaublich unangenehm.
Noch immer stand er hier in der Eingangstür, zweifelnde Blicke auf sich spürend und rang mit sich selbst. Was stellte die wunderschöne Rothaarige nur mit ihm an? Avi umfasste den kalten Einband des Buches in seiner Tasche, versuchte erneut unbemerkt durchzuatmen und streckte es Sina schließlich mit einer raschen Bewegung entgegen.
Kurze Zeit lag ein verdutzter Ausdruck auf ihrem Gesicht, dann wich dieser jedoch einem warmen Schmunzeln.
"Ich hab schon gedacht, ich hab es verloren...", sprach sie leise. "Danke."
Avi Kaplan lächelte ihr zu. Sie sollte wissen, dass er es ihr gern zurückgebracht hatte.
"Willst du kurz reinkommen?", wollte Sina wissen, während sie sich eine der wenigen widerspenstigen Strähnen, die nicht in ihrem Zopf halten wollten, hinters Ohr strich.
Mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen nickte der Braunhaarige. Irgendwie hatte er gehofft, dass sie diese Frage stellen würde...

Sina fand, dass der Mann, der gerade noch vor ihrer Tür gestanden hatte und nun schweigend und mit neugierigem Blick durch ihr unfertiges Café ging, heute in noch seltsamerer Stimmung war, als bei ihrer ersten Begegnung. Sie hatte erlebt, wie offen und witzig er sein konnte, wenn man ihn erst einmal näher kannte, doch jetzt gerade strahlte er nicht einmal mehr die anfängliche Distanz aus. Sina hatte erst nicht gewusst, was sie davon halten sollte, dass er vor ihrer Tür aufgetaucht war, schließlich hatte sie gegenüber dem Braunhaarigen nie ein Wort über ihr Haus verloren, doch nun freute sie sich innerlich über seine Anwesenheit.
Auch wenn die junge Frau mit den rotblonden Haaren sonst so wortgewandt war, fand sie in seiner Gegenwart nur schwer die richtigen Worte, besonders heute. Warum das so war, wusste sie nicht.
Während Sina noch immer im Eingangsbereich stand und Avriel bei jedem seiner Schritte musterte, bemerkte sie die immer intensiver werdende Freude in sich. Sie mochte ihn, sehr sogar und hatte sich nach dem gestrigen Treffen am Strand schon oft gefragt, ob sie ihn wiedersehen würde. Sina genoss seine Präsenz, auch wenn er ihr noch immer ein einziges Rätsel war.
Plötzlich spürte die junge Frau eine Hand auf ihrer Schulter ruhen, die sie augenblicklich zusammenzucken ließ. Wenige Sekunden später bemerkte sie, dass es Avriel war, der direkt vor ihr stand und sie besorgt musterte.
"Sina, ist alles in Ordnung?"
Die tiefe Stimme ihres Gegenüber durchströmte ihren ganzen Körper und ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen.
"J-ja. Alles o-okay.", brachte sie gerade so als Antwort heraus und versuchte zu lächeln.
Kurz musterte Avriel sie noch, dann trat er einen Schritt zurück und drehte ihr wieder den Rücken zu.
Sie war froh, dass er nicht weiter danach fragte, da sie selbst nicht so recht wusste, was mit ihr los war. Was hätte sie ihm also sagen sollen, wenn er nach einem Grund für ihr Verhalten gefragt hätte?
"Die Farben gefallen mir. Sie passen gut zu dem hellen Boden.", kommentierte Avriel das, was er gerade sah.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Sinas Lippen. Seine Meinung bedeutete ihr sehr viel.
"Danke. M-möchtest du vielleicht noch die anderen Zimmer sehen?"
Nun drehte sich ihr Gast wieder zu ihr um und antwortete: "Sehr gern."
Schmunzelnd nickte sie und lief an ihm vorbei zu einer Tür, hinter der später einmal die Küche ihres Cafés entstehen sollte.

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