Wieder und wieder drehte er den grauen Einband in seinen Händen. Er war glatt und der polierte Schriftzug auf der Vorderseite glänzte ihm entgegen. Das Buch, das gestern noch in ihren Händen gelegen hatte, befand sich nun in seinen. Die hatte es in den Dünen vergessen und er hatte es mitgenommen. Es erinnerte Avriel an den gestrigen Tag, den er beinahe ausschließlich mit ihr am Strand verbracht hatte.
Er musste lächeln.
Es war der angenehmste Tag der letzten Wochen gewesen. Der Basssänger hatte es garnicht so recht wahrgenommen, aber tief in sich hatte er die Gesellschaft anderer Menschen vermisst...
Noch einige Minuten stand er so da, beinahe wie in Trance und hielt das Buch fest mit seinen Händen umschlossen, dann löste er sich von seinen Erinnerungen und überlegte, wie er es Sina zukommen lassen konnte. Der junge Mann hatte schließlich weder Adresse noch Handynummer von ihr.
Grübelnd bedachte er das Buch einiger weiterer Blicke, bis ihm schließlich die Idee kam, an dem Ort nachzufragen, von dem Avi wusste, dass die junge frau oft dort war: der Touristeninformation.
Zügig stülpte er die Schuhe über seine Füße, nahm sich eine Jacke und verließ mit dem Buch in seiner rechten Hand die Wohnung.
Der Amerikaner durchquerte den aufblühenden Park und setzte Fuß um Fuß, bis er schließlich vor der glänzenden Eingangstür stand. Er war nervös, würde er die wunderschöne Frau mit den glänzenden Augen und den Sommersprossen auf ihrem zarten Gesicht in einigen Augenblicken wiedersehen. Warum Sina ihn derartig aus der Fassung brachte, konnte sich Avi nicht erklären.
Nachdem er noch einmal tief eingeatmet hatte, um die frische Meeresluft in seine Lungen strömen zu lassen, umfasste er die kühle Türklinke und betrat das modern eingerichtete Haus.
Wie an dem Samstag vor zwei Wochen war es in dem mittelgroßen Raum totenstill und wieder schauten ihn die freundlichen blauen Augen des jungen Mannes hinter dem Tresen aufmerksam an. Er sagte nichts. Der Blondhaarige schien zu vermuten, dass Avriel gleich sein Wort an ihn richten würde und genau das tat er auch.
"Guten Tag. Ich habe eine Frage an sie, die sie sicherlich beantworten können."
Neugierig hob er eine seiner Augenbrauen.
Avi Kaplan ignorierte diese Regung und sprach einfach weiter: "Ich suche Sina. Wissen sie, wann sie heute zur Arbeit kommt?"
Nun verschwand die unterschwellige Neugier aus dem Gesicht des Mannes und machte offensichtlicher Überraschung platz. Er hatte wohl nicht vermutet, dass die Frage seines Gegenüber in diese Richtung gehen würde.
Der blonde Mann schien kurz zu überlegen, dann antwortete er aber: "Es tut mir leid ihnen sagen zu müssen, dass Frau Bardal nicht mehr bei uns arbeitet."
"Verdammt!", fluchte Avriel halblaut.
"Was wollen sie denn von ihr?"
"Sie hat ihr Buch am Strand liegen lassen. Ich wollte es ihr zurückgeben... Haben sie vielleicht eine Idee, wo ich Sina antreffen könnte?"
Wieder überlegte er. Dieser Mann schien etwas zu wissen, konnte sich wohl aber nicht entscheiden, ob er es dem Besucher, der vor ihm stand, mitteilen sollte oder nicht.
So stand der amerikanische Sänger einige Minuten, die sich für ihn wie Stunden anfühlten und zunehmend unangenehmer wurden, da und wartete darauf, dass ihm der jungaussehende Mann endlich eine Antwort gab.
Dieser hatte sich wohl schließlich doch noch dazu durchringen können, ihm einige Informationen über die schöne Frau zu geben, denn nachdem Avriel ein tiefes Einatmen vernommen hatte, hörte er die Stimme des Mannes sagen: "Frau Bardal hat uns verlassen, um ihr, vor kurzem erstandenes, Haus zu renovieren..."
Interessiert hörte der Basssänger den Erzählungen zu.Dass Tanja gestern Abend vor ihrer Wohnung gestanden hatte, war für Sina eine große Überraschung gewesen, hatte sie doch keinen Grund für ein so plötzliches Auftauchen erkennen können. Ihre große Schwester hatte es mit den Worten 'Ich dachte, du könntest ein wenig Rennovierungshilfe gebrauchen' begründet und hatte Sina somit zum Grinsen gebracht. Natürlich konnte sie im Moment keine helfende Hand ausschlagen und das wusste Tanja genau.
Nun standen die beiden Frauen in der, noch völlig leeren, unteren Etage des alten Fachwerkhauses, so wie sie es schon mindestens seit einer halben Stunde taten, und gingen die verschiedensten Farbvarianten, in denen sie sie Wände streichen könnten, durch, doch nichts wollte der Frau mit den rotblonden Haaren so recht gefallen. Sie hatte zwar bereits ein helles Grün und ein zartes Blau gekauf, doch wie sie die beiden Farben nun an den Wänden verteilen sollte, wusste sie noch nicht.
"Was hältst du davon, wenn wir den WC-Bereich in Blau- und Brauntönen gestalten und der Rest des Cafés in diesem wunderschönen Grün gestrichen wird?", schlug ihre ältere Schwester vor.
"Hm... Das kling garnicht so schlecht, aber diese Wand hier wird auf jeden Fall mit einer Tapete mit Holzoptik versehen.", meinte die junge Frau und deutete auf die angesprochene Fläche.
Tanja lächelte.
"Wenn du das so haben möchtest."
Sina nickte überzeugt.
"Also dann ab an die Arbeit!", rief die Dunkelhaarige aus, "Das Café streicht sich schließlich nicht von alleine."Den gesamten Tag verbrachten die beiden Schwestern damit, die Wände nach Sinas Gefallen zu gestalten und kamen dabei gut voran. Die Zeit verging wie im Fluge. Tanja und Sina machten sich, während sie alle Wände mehrmals strichen, einen Spaß daraus, sich gegenseitig mit Farbe einzuschmieren. Dabei lachten sie lauthals, so wie sie es schon lange nicht mehr getan hatten. Ab und zu kehrte aber auch Stille ein und beide widmeten sich ganz den gleichmäßigen Bewegungen der Farbrollen in ihren Händen.
In solchen Momenten drifteten die Gedanken der jungen Frau immer wieder ab, hin zum gestrigen Tag, zu dem Mann mit den ebenholzfarbenen Locken und der außergewöhnlich tiefen Stimme... Sie grübelte darüber nach, warum er sich gestern so anders, beinahe gegensätzlich, verhalten hatte, als damals in der Bar.
Bei diesen Gedanken vergaß Sina immer wieder alles um sich herum, sogar die Anwesenheit ihrer Schwester, die sich irgendwann mit einem Räuspern neben ihr bemerkbar machte.
Da die rothaarige Frau nicht damit gerechnet hatte, hier in dem leerstehenden Haus ein Geräusch zu vernehmen, erst Recht nicht in ihrer unmittelbaren Nähe, zuckte sie merklich zusammen, bevor sie den Kopf zur Seite drehte und realisierte, dass ihre Schwester neben ihr stand.
Besorgt schaute diese zu ihr.
"Was ist los mit dir, Sina?"
"Nichts. Ich hab nur nachgedacht.", antwortete die junge Frau mit ruhiger, aber etwas zurückhaltender Stimme.
Tanja schien mit dieser Antwort nicht so recht zufrieden zu sein, sagte aber nichts weiter dazu.
"Wie ich vorhin, als du in deinen Gedanken versunken warst, erzählt habe, muss ich jetzt leider schon gehen. Andreas wartet zu Hause auf mich. Ich habe ihm versprochen, heute Abend wieder bei ihm zu sein.", redete sie weiter.
"Ist es wirklich schon so spät?", wollte Sina verwundert wissen.
"Schau mal raus. Es ist bereits dunkel."
Die Rothaarige tat genau das und stellte stutzig fest, dass es tatsächlich schon früher Abend sein musste. So schnell war die Zeit vergangen und sie hatte nichts davon mitbekommen...
Als sie ihren Blick wieder von dem Fenster abgewandt hatte, hatte ihre große Schwester bereits ihre dunkle Jacke angezogen und war bereit zu gehen.
Noch einmal umarmte sie Sina, lächelte und sagte: "Wenn du mir doch irgendwann verraten magst, worüber du heute nachgedacht hast, dann ruf mich einfach an, ja?"
Tanja wartete nicht auf eine Antwort ihrer kleinen Schwester und verließ einfach das Haus.
DU LIEST GERADE
Basstone
FanfictionEine kurze Auszeit von all dem Rummel sollte es werden. Avi brauchte einmal Zeit für sich. Ohne Fans, ohne Pentatonix, ohne YouTube. Sein Ziel war Deutschland. Hier, so hoffte er, würde er in Ruhe abschalten können, doch dort geschah etwas, das sein...