Kapitel 23

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Mit einem flauen Gefühl im Magen musterte er den gut gefüllten Schankraum. Von Tisch zu Tisch ließ er seinen Blick schweifen, doch nirgendwo erkannte er seine wunderschöne Bekannte. Er fühlte sich ungut, mitten im Raum stehen zu müssen, offen sichtbar für alle Anwesenden, auch wenn ihm kaum einer von diesen so wirklich Beachtung schenkte. Alle waren mit sich selbst oder ihren Mitmenschen beschäftigt. Reden, lachen, essen...
Avriel lief ein Stück weiter durch das Restaurant und schaute zu den zuvor uneinsichtigen Tischen. Der Mann mit den schulterlangen, braunen Haaren erstarrte, als er Sina allein an einem der Tische entdeckte. Sie schaute abwesend aus einem der kleinen Fenster und schien ihn garnicht wahrzunehmen. Er bemerkte, wie seine Hände zu zittern begannen. Eigentlich sollte er schon seit über einer Stunde mit an diesem Tisch sitzen und das machen, was alle Gäste dieses Hauses taten: Essen und sich dabei unterhalten. Aber er war zu spät, stand immer noch etwas von ihr entfernt und beobachtete sie. Die schöne Frau wirkte enttäuscht und traurig, was Avi ihr in keinster Weise verübeln konnte. Er hätte die zwei Mädchen abwimmeln oder sich zumindest beeilen müssen...
Jetzt geh schon endlich zu ihr, oder willst du sie weiter warten lassen?
Nein, das war keinesfalls seine Absicht. Vorsichtig näherte er sich dem kleinen Holztisch.
"Guten... guten Abend.", begrüßte er sie leise.
Langsam wandte sie den Blick vom Fenster ab und legte ihn nun auf Avriel. Als er den Ausdruck sah, der in den sonst so leuchtenden Augen der jungen Frau lag, traf ihn der Schlag. Der Braunhaarige hatte erwartet sie wütend zu sehen, vielleicht auch angespannt, aber diese schmerzliche Mischung aus Enttäuschung und Melancholie, die er nun in ihnen erblickte, löste ein Stechen in seinem Brustkorb aus.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, setzte er sich ihr gegenüber hin, nachdem er seine Lederjacke über den Stuhl gehängt hatte.
"Sina, ich...", wollte Avi zu einer Entschuldigung ansetzen, doch die Rothaarige unterbrach ihn, noch bevor er ihr den Grund für sein verspätetes Erscheinen, und somit den Auslöser für ihre Gefühle, mitteilen konnte.
"Sag nichts. Bitte."
Verwirrt nickte Avriel und nahm sich die zweite Speisekarte, die noch unberührt vor ihm lag.

Da war er nun, der schlanke Mann mit der tiefen Stimme, die ihr immer wieder eine Gänsehaut bescherte. Er saß vor ihr, ganz in die Karte vertieft. Sina ließ ihren Blick über ihn schweifen. Avriel sah gut aus, wie eigentlich immer. Wieder hatte er ein Hemd an, diesmal ein dunkelrotes. Seine welligen Haare hatte er heute zu einem straffen Zopf zusammengebunden. Es war das erste Mal, dass sie ihn mit einer anderen Frisur sah, als mit offenen Haaren und seiner Mütze, aber es stand ihm, sehr sogar. Während seine grünen Augen über die verschiedenen Gerichte der Speisekarte huschten, fuhr er sich mit seiner linken Hand durch die unteren Spitzen seines Bartes. Es erinnerte Sina daran, wie weich sich sein Bart unter ihren Finger angefühlt hatte. Wie gern würde sie ihn noch einmal berühren...
Nach einer gefühlten Ewigkeit legte schließlich auch er die schlichte Karte beiseite und schaute in ihre Richtung. Dass sie ihn die ganze Zeit über angestarrt hatte, bemerkte die junge Frau erst jetzt. Augenblicklich schoss ihr Blick wieder zu dem kleinen Fenster. Sie wollte ihn jetzt nicht ansehen. Er sollte merken, dass er ihr damit weh getan hatte, sie so lange warten zu lassen. Sina hatte sich dabei irgendwie wertlos gefühlt, irgendwie benutzt...
Nach einer Weile kam eine ältere Kellnerin vorbei. Sie nahm die Bestellung von Avriel und ihr auf, verschwand dann aber auch so schnell wie sie gekommen war wieder und ließ die Rothaarige wieder mit ihren Problemen allein.

All die Zeit über sagte sie nicht ein Wort. Kein 'Warum bist du zu spät?', kein 'Warum lässt du mich so lange warten?', nichts. Ab und an, wenn er sie nicht gerade beobachtete, spürte Avi Kaplan ihren Blick auf sich ruhen. Eigentlich ruhte er nicht, er wanderte umher. Von seinen Haaren zu seinen Augen, Lippen, seine unruhig auf dem Tisch nach etwas Greifbarem suchenden Hände... Wenn er nur wüsste, was sie sich nun dachte. Sicher, sie war enttäuscht von ihm, das war kaum zu übersehen, aber da war noch mehr. Sina wirkte angespannt, nervös...
Als die Kellnerin schließlich ihr Essen und für Avriel ein Getränk brachte, wagte sich der Amerikaner, die wunderschöne Frau erneut zu betrachten. Schon lange hatte er ihre glänzenden, fuchsroten Haare bemerkt, die heute besonders kunstvoll über ihre Schultern fielen und in einzelnen gedrehten Strähnen nach hinten gebunden waren. Er wollte ihr ein Kompliment für ihr hinreißendes Kleid machen, dessen helles Grün und das beige Rosenmuster perfekt mit ihren Haaren harmonierte, doch er traute sich nicht. Es war eine unpassende Situation dafür, so schien ihm. Vorher musste er ihr noch einiges erklären und der Grund für sein Zuspätkommen war nur ein kleiner Teil davon. Damit sie es verstehen würde, müsste er weit ausholen. Eigentlich hatte Avriel nicht von seinem Leben erzählen wollen, zumindest noch nicht, doch Sina hatte die Wahrheit verdient, so fand er.
Er beobachte sie weiter. Schweigend begann sie, die ersten Stücke ihres Fischfilets zu schneiden.
Die klirrende Stille zwischen ihnen zerriss ihn innerlich. Lange konnte er sie nicht mehr aushalten. Alles drängte den Braunhaarigen dazu, endlich mit all den Erzählungen zu beginnen, die er vorhatte, ihr an diesem Abend zu offenbaren. Avriel schmerzte es, diese Veränderung verursacht zu haben. Hätte er die zwei Mädchen vielleicht doch abwimmeln sollen, nur dieses eine Mal? Dann wäre er noch rechtzeitig gekommen und eine solche Kälte, wie sie jetzt zwischen ihnen stand, wäre nicht vorhanden gewesen.
Der amerikanische Sänger atmete tief durch. Er musste ihr von Pentatonix erzählen, musste ihr klar machen, dass er sie niemals mit Absicht hatte warten lassen.
Er wollte gerade zum Reden ansetzen, da kam erneut die Bedienung, die zuvor auch ihre Bestellung aufgenommen hatte, zu ihrem Tisch, stellte vor Avriel sein gewünschtes Essen ab und fragte: "Ist soweit alles bei ihnen in Ordnung?"
Kurz huschte sein Blick zu Sina hinüber.
"Ja, danke.", antwortete Avi schließlich und sofort verschwand die ältere frau mit einem Lächeln wieder von ihrem Tisch.
Nichts ist in Ordnung. Garnichts..., dachte er still bei sich, als er erneut zu seiner Begleitung schaute.

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