Kapitel 10

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Er hatte nicht gedacht, sie so schnell wiederzusehen, die einzigartige Ausstrahlung dieser jungen Frau. Erst gestern hatte sie ihm bewiesen, wie unnahbar sie sein konnte.
Nun saß sie hier in der kleinen Bar neben ihm und lächelte ihn an. Ihren rötlichen Haaren erlaubte sie es, in leichten Wellen über ihre Wangen zu fallen und das schmale Gesicht einzurahmen. Nichts von der gestrigen Strenge war mehr an ihr. Die schwarze Bluse wand sich locker um ihren Oberkörper und ging in eine hellbraune Hose über. Kein straffgezogener Mantel, keine faltenfrei gebügelte Hose, keine darin enthaltene Förmlichkeit. Es war kein gezwungenes Lächeln, so wie gestern Vormittag. Nein, es war herzlich und weckte Avriel langsam aus seiner inneren Müdigkeit. Sie schaute ihn nur an, sagte nicht ein Wort. Worauf wartete sie nur?
Da fiel dem Basssänger auf, dass er noch immer ihre Hand in seiner hielt. Augenblicklich löste er seinen Griff und senkte seinen Blick ein wenig.
"Entschuldigen sie.", brummte er beschämt.
Das ließ die junge Frau auflachen. "Kein Problem."
Nun musterte Avi sie erneut. Selbst in dem dämmrigen Licht dieses Raumes fielen ihm die kleinen, auf Wangen und Nase verteilten, Sommersprossen auf, die den hellen Ton ihrer Haut noch deutlicher zur Geltung brachten. Ihre blauen Augen leuchteten ihm freundlich mit einem Hauch Grün entgegen und warteten geduldig ab, dass er sein Wort an deren Besitzerin wandte. Als er das aber nicht tat, sondern die junge Frau einfach weiterhin betrachtete, legte sich Besorgnis um ihre Augen.
"Alles in Ordnung?", fragte sie ihn leise, sodass es kein anderer um sie herum hören konnte.
Auf diese Frage antwortete er nur knapp mit einem: "Es ist nichts, worum sie sich sorgen müssen.", und drehte sich von ihr weg, seinem Glas zu.
"Du.", hörte er von ihr.
Avriel drehte seinen Kopf zu der schönen Frau und zog fragend eine Augenbraue hoch.
"Bitte sagen sie du zu mir. Ich mag förmliche Anreden nicht so sehr.", erklärte sie schwach lächelnd.
Der Braunhaarige hingegen schmunzelte kurz, nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sein halbvolles Glas.
Einen Moment war es still, wenn man das bei dem allgemeinen Stimmengewirr und der allmählich lauter werdenden Musik so sagen konnte, dann vernahm der amerikanische Sänger weitere Worte: "Was ist los? Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt. Du warst gestern schon so... abwesend."
Avriel zuckte zusammen. Die Frau, der diese Worte gehörten, hatte ihm gerade mit ihrer hellen Stimme verständlich gemacht, dass er ihr nicht fremd war. Sie musste ihn wohl wiedererkannt haben. Avi drehte seinen Kopf erneut zu ihr und begegnete mit seinen Augen einem geduldig fragenden Blick.

"Machst du hier Urlaub?", wollte Sina neugierig wissen.
Ihr Gegenüber nickte nur.
Das hatte sie sich eigentlich auch denken können, immerhin hatte er ihr bereits erzählt, dass für ihn hier alles fremd war und er niemanden kannte.
"Gefällt es dir?"
Nun lächelte Avriel.
"Ja. Die Ruhe tut mir gut.", antwortete er mit einem ausländischen Akzent auf Sina's Frage.
"Das freut mich zu hören.", meinte sie und nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
Noch immer schien der junge Mann nicht gänzlich bei der Sache zu sein, denn immer wieder starrte er ins Leere. Sina hatte das Gefühl, dass er ihr noch immer viel verschwieg, doch sie wollte nicht noch einmal nachfragen. Das schien ihr unhöflich zu sein. Er hatte die Chance gehabt es ihr zu erzählen, doch er hatte sie nicht genutzt. Sicher aus einem guten Grund.
Mittlerweile antwortete Avriel zwar auf die Fragen, die sie ihm stellte, doch von selbst zeigte er noch kein rechtes Interesse an einem Gespräch mit ihr. Was konnte einen so jungen und attraktiven Mann derart betrüben?
Wieder musterte sie ihn. Er hatte sich nicht von ihr weggedreht, so wie noch vor ein paar Minuten, doch er schien sie auch nicht anzusehen. Seine klaren, grünen Augen schienen durch sie hindurch zu sehen, als wäre sie aus Glas.
So kann das nicht weitergehen! Er ist immer noch mit seinen Gedanken woanders..., dachte die Frau mit den rotblonden Haaren bei sich.
"Was machst du so, wenn du nicht gerade an einer Theke in einer Bar sitzt und in die Leere starrst?", fragte sie ihn daher.
Eine solche Frage hatte er nicht erwartet, das konnte sie ihm ansehen, denn kaum waren ihr diese Worte über die Lippen gegangen, blinzelte der Braunhaarige kurz und blickte ihr dann in das verschmitzt schmunzelnde Gesicht. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung schien er endlich realisiert zu haben, was sie von ihm wissen wollte.
Er räusperte sich verlegen und entgegnete dann: "Ähm... Ich... Eigentlich mache ich im Moment nichts. Ab und zu laufe ich am Meer entlang..."
"Ist es nicht wunderschön?", unterbrach ihn die junge Frau, "So wie es glänzt und wie die Wellen rauschen..."
Sina bemerkte, wie sich ein schwaches Lächeln über die Lippen ihres Gegenüber legte.
"Ja, das ist es."
"Schon als Kind habe ich das Wasser geliebt. Deswegen bin ich auch nie hier weg.", erzählte die junge Frau weiter.
"Wolltest du nie von zuhause fortgehen?", hakte Avriel nun nach.
"Nein.", lächelte Sina. Es freute sie, dass der traurige Mann langsam Gefallen an dem gemeinsamen Gespräch zu finden schien.
"Mein Traum war es schon immer, hier zu leben."
"Das kann ich verstehen.", gab der braunhaarige Mann zu.
"Wo kommst du eigentlich her?"
Die junge Frau schaute ihn neugierig an, war dies doch eine Frage gewesen, die sie schon die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt hatte.
"Aus Amerika, Los Angeles."

Die Minuten verflogen und Avi Kaplan genoss das lockere, ungezwungene Gespräch mit Sina zunehmend. Außer Kirstie, Scott, Mitchell und Kevin war sie die Erste, die nicht ausschließlich mit ihm redete, weil er berühmt war. Im Gegenteil: Für sie war der junge Basssänger sicher nur ein amerikanischer Urlauber, nichts Besonderes. Und genau das genoss er so an ihrer Anwesenheit. Für sie war er ein normaler Mensch, mit dem sie aus reinem Interesse redete.
Seine innere Müdigkeit und die Trübsal verschwanden schnell. Bald schon lachten sie gemeinsam, erzählten sich Geschichten aus ihrem Leben, wobei Avi darauf achtete, nichts über seinen Beruf preiszugeben, und tranken gemeinsam das ein oder andere Glas leer, bis Sina schließlich aufstand.
"Ich muss jetzt leider gehen. Es ist schon spät.", sagte sie und bezahlte ihre Rechnung.
Avriel nickte.
"Es war schön mit dir zu reden. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann noch einmal.", lächelte sie zum Abschied, band sich ihren roten Schal um, zog ihren Mantel an und verschwand in Richtung Tür.
Kurz schaute er ihr noch nach, dann leerte auch er sein Glas, bezahlte und ging.

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