Kapitel 9

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"Kommst du mit? Ich hab richtig Lust, was mit dir zu unternehmen!", fragte Sina durch ihr Telefon.
"Tut mir leid ich kann heute nicht.", bekam sie sofort als Antwort, " Ich habe mich zur Abendführung breitschlagen lassen."
"Oh... Naja macht nichts. Wir sehen uns dann morgen!"
"Bis morgen, Sina.", verabschiedete sich Josua und gleich darauf vernahm die junge Frau nur noch das Tuten der leeren Leitung an ihrem Ohr.
Sie sperrte das Display ihres Smartphones wieder. Auch wenn ihr bester Freund heute nicht mitkäme, würde sie trotzdem in die Bar am Hafen gehen, so wie sie es früher oft getan hatte. Irgendjemand würde sich dort schon finden lassen, mit dem sie ein wenig quatschen konnte und wenn nicht, wäre das auch nicht schlimm. Ihre Laune war einfach zu gut, um sich von so einer Kleinigkeit runterziehen zu lassen. Außerdem war Sina auch schon fertig umgezogen. Heute würde sie nichts mehr für ihr Café machen. Morgen war ja auch noch ein Tag.
Kurz blickte die junge Frau noch in den Spiegel im Flur, inspizierte ihre gelockten rotblonden Haare mehrmals, zupfte an ihrer schwarzen Bluse herum und entschloss sich dann, sich auf den Weg zu machen.

Die laute Geräuschkulisse hatte Avriel schon beinahe komplett ausgeblendet. Noch immer schaute er sich in dem Raum um. Hier herrschte so viel Leben, doch das berührte ihn nicht. All die lachenden Gesichter, die Freude und all die knisternde Energie hatte keinen Einfluss auf ihn. Auch in Los Angeles war er nie einer derjenigen gewesen, die mit Vorlieben in Discos und Clubs gehen, und trotzdem hatte ihn die Musik immer irgendwie mitgenommen, doch hier... Sicher, Avi Kaplan hatte sich von Anfang an nicht offensichtlich mit in das Geschehen einbringen wollen, doch warum war er hierher gekommen, wenn er sich für rein garnichts begeistern konnte? Genauso gut hätte der Braunhaarige in seiner Wohnung bleiben oder die frische Brise des Meeres in seinen Lungenflügeln spüren können... Hier auf dem Barhocker, den Blick auf die amüsierten Menschen hinter und neben sich werfend, fühlte er sich beinahe noch einsamer, als gestern Abend in den Straßen Warnemündes. Die Menschen um ihn herum, die zum größten Teil in seinem Alter waren, schienen genauso wenig Interesse an ihm zu haben, wie er an seiner Umgebung.
Gelangweilt und mit beginnender Trübsal drehte er sich wieder dem Tresen zu, griff nach seinem Glas, schwenkte es und schaute der klaren Flüssigkeit darin halbherzig zu, wie sie sich der Bewegung des Glases anpasste.

Ein Schwall warmer Luft und lauten Stimmengewirrs begrüßte sie, genau wie es die junge Frau erwartet hatte. Freudig lächelnd schloss sie die Tür hinter sich und wandte sich wieder den Menschen in diesem Raum zu. Wie sie es genoss, die Energie hier zu spüren... Wo sie auch hinsah, wo auch immer sich ihr Blick hinwandte, sah die rotblonde Frau lachende Gesichter, Zuneigung und Spaß. Jedesmal wenn sie hier war, hatte sie das Gefühl, einen kleinen Einblick in das Leben anderer Menschen zu bekommen. Hier konnte sich Sina von ihrem eigenen Leben, ihren eigenen Problemen ein wenig distanzieren, in den Charakter anderer schauen und das Miteinander genießen. Sie liebte es, unter Leute zu gehen.
Für einen Montagabend war die Bar heute erstaunlich voll. Noch immer im Eingangsbereich stehend suchte Sina nach einem Platz, an dem sie erst einmal in Ruhe einen Drink genießen konnte, bevor sie sich dem ein oder anderen Gespräch zuwenden wollte. Erstaunlicherweise war wirklich nirgendwo mehr ein Platz frei. Selbst die kleine Tanzfläche im hinteren Teil des Clubs war überfüllt.
Die junge Frau schritt ein wenig weiter in den Raum hinein. Nun konnte sie auch die verhältnismäßig lange Bar sehen. Dort wo normalerweise zuerst alle Plätze besetzt waren, erkannte Sina heute viele freie Hocker. Tatsächlich saß dort nur eine Person mit dem Rücken zu allen anderen Gästen. Es war ein Mann, soviel konnte sie auch von ihrem Standort aus erkennen und an seiner Haltung glaubte Sina ablesen zu können, dass er nicht bei bester Laune war.
Warum sitzt er hier, wenn er mit niemandem redet?, fragte sich die Rotblonde.
Kurz darauf zuckte sie nur mit den Schultern und bewegte sich auf den Tresen zu. Wenn sie hier den Abend verbringen wollte, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich zu dem Mann mit dem grauen Hemd und der schwarzen Jeans zu gesellen.
Beim Näherkommen fielen Sina die dunkelbraunen, beinahe schwarzen halblangen Haare auf, die ihm in Wellen bis zu den Schultern fielen. Irgendwoher kannte sie diesen Anblick...
"Entschuldigen sie, darf ich mich setzen?", richtete die junge Frau die Worte an den Mann, als sie direkt neben ihm stand.
Er hob nur langsam seinen Blick, der vorher auf sein halb leeres Glas gerichtet war, und schaute sie mit trüben Augen an, nickte dann aber und wandte seinen Blick wieder ab.
Einen Moment zögerte Sina noch, dann setzte sie sich auf einen Hocker neben ihm.
"Ein Gin Tonic, bitte.", bestellte die junge Frau beim Barkeeper. Dieser nickte und stellte kurz darauf ein Glas vor sie hin.
Währenddessen beobachtete sie den Mann neben sich still von der Seite. Wie er so dasaß, geknickt, irgendwie in Gedanken vertieft, als bekäme er nichts um sich herum mit... Sollte sie ihn ansprechen, fragen was ihn so sehr beschäftigte? Eine Ablenkung täte ihm sicher gut, oder? Ein kurzer Blick durch die Bar verriet Sina, dass die ausgelassene Stimmung noch immer anhielt. Aber warum berührte ihn das laute Stimmengewirr, die Musik und all das Lachen nicht? Was war nur los mit ihm? Diese Haltung, in der er hier saß, sein starres Gesicht... All das kam ihr bekannt vor, doch woher?
Sina atmete tief ein.
"Entschuldigung. Sie sehen traurig aus."
Er hob seinen Kopf wieder, ließ seine tiefgrünen Augen über ihr Gesicht schnellen und wandte sich wieder ab.
Diese Augen, die langen Haare und seine vollen Lippen, umrahmt von einem gepflegten Bart... Woher kannte sie ihn bloß?
"Ich bin Sina.", stellte sich die junge Frau mit einem Lächeln vor und streckte ihm die Hand hin.
Wieder sah er sie an, doch diesmal lag etwas anderes in seinem Blick. Der Mann schaute sie an, blickte ihr direkt in die Augen und musterte dann ihre Hand, nur um sie letztendlich wieder anzusehen. Was ging nur in ihm vor? Warum war er so seltsam abwesend?
"Avriel.", hörte sie ihn knapp sagen, dann spürte sie auch schon seine warme Hand ihre drücken.
Sina hatte es die Sprache verschlagen. Diese unglaublich tiefe Stimme hatte ihr einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Nun wusste sie auch endlich, woher sie ihn kannte...

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