Kapitel 19

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Ihre Hände lagen nun nicht mehr auf seinen Wangen. Mit diesem lauten Geräusch war die Spannung zwischen den beiden augenblicklich gebrochen worden.
Avriel schaute Sina verunsichert an. Er wusste nicht, was gerade in ihr vorging.
Um sie herum herrschte Stille, ein Schweigen, das Avi Kaplan immer unangenehmer wurde. Er fühlte sich unbehaglich, traute sich kaum noch, die Rothaarige anzusehen. Wenn sie doch nicht so fühlte wie er selbst...
"Hast du das auch gehört?", wollte Sina plötzlich leise flüsternd von ihm wissen.
Der Basssänger nickte lediglich.
"Das kam von unten. Ich muss nachsehen, was das war.", sagte sie nur noch und ging dann an ihm vorbei, hinein in ihre Wohnung.
Avriel war noch immer wie erstarrt, konnte ihr nur hinterher schauen. Er war wie benommen von dem, was gerade passiert war. Er hatte sie fast geküsst und es hatte sich so richtig angefühlt, doch war es das auch wirklich? Konnte man jemanden lieben, den man erst wenige Male gesehen und noch weniger mit demjenigen gesprochen hatte? War es überhaupt klug, sich hier zu verlieben?
Avriel konnte auf keine dieser Fragen eine Antwort finden. Er wusste nur, dass er es bereits getan hatte, wusste nun, warum Sina ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte... Er liebte sie.

Die junge Frau lief so lautlos wie nur möglich durch die Flure, bis sie am Treppenhaus, das runter in ihr Café führte, ankam.
Sie stoppte. Sina war innerlich so aufgewühlt. Der Moment oben auf dem Balkon hatte ihr beinahe alle Sinne geraubt und nun dieses Geräusch...
Sie atmete noch einmal tief durch und ging dann die Treppen hinunter in ihr Café, wo noch immer die Deckenlampen leuchteten. Sie hatte ja nicht erwartet, dass sie mit Avriel so lange oben verweilen würde... Doch nun war sie heilfroh, dass die Lampen noch Licht spendeten. Wenn Sina sie zuvor ausgeschaltet hätte, hätte sie nun zuerst durch den halben Raum laufen müssen, um an den Lichtschalter zu gelangen. Schon so verspürte sie eine innere Anspannung...
Sina war am unteren Ende der Treppe angelangt und zögerte wieder. Hinter sich hörte sie Schritte, die wohl zu Avriel gehören mussten. Allein der Gedanke daran, dass er gleich wieder neben ihr stehen würde, verschärfte das Gefühl von Anspannung in ihr deutlich. Sina wusste nicht, wie sie sich nun ihm gegenüber verhalten sollte, was sie sagen sollte. Sie wusste selbst noch nicht so recht, was oben geschehen war und was sie davon halten sollte...
Aus dem Augenwinkel nahm die junge Frau wahr, dass sich Avriel gerade neben sie gestellt hatte und sie ansah. Sina zögerte, seinen Blick zu erwidern, hatte sie doch irgendwie Angst vor dem, was sie darin lesen würde. Aber was genau erhoffte sie sich eigentlich darin zu sehen? Sie konnte sich das selbst nicht beantworten.
Ohne in seine Augen zu blicken ging sie einige Schritte voran, bis sie Avriels Stimme hinter sich hörte.
"Warte!", ertönte seine samtige, tiefe Stimme und erzeugte einen Schauer auf dem Rücken der jungen Frau. "Ich komme mit. Es ist besser, wenn wir zu zweit gehen."

Als Avriel und Sina den großen Raum im Untergeschoss betraten, konnten sie zuerst kaum eine Veränderung erkennen. Lediglich die Metallleiter lag auf dem Boden. Sie war es wohl gewesen, die laut scheppernd auf den Fliesen aufgekommen war, doch von allein fiel eine Leiter nicht um.
Vorsichtig suchend blickten sich Sina und Avriel um. Während sie weiter im Cafébereich nachsah, begab sich der Amerikaner mit beinahe angehaltenem Atem in die, noch unfertige, Küche. Hier standen jedoch bloß ein paar geschlossene Kartons aus langweilig graubrauner Pappe herum. Kein Anzeichen für einen ungebetenen Gast.
Avriel runzelte seine Stirn. Ihm kam die ganze Situation ziemlich seltsam vor. Erst das laute Poltern und nun diese Stille... Etwas stimmte hier nicht.
Plötzlich ertönte ein lauter, beinahe schriller Schrei, der ihn sofort zusammenschrecken ließ.
Sina!, durchzuckte es augenblicklich seinen Kopf.
Angst machte sich in ihm breit. Was war dort draußen geschehen? Warum hatte Sina geschrien?
Geh hin und sieh nach!
Augenblicklich rannte Avi Kaplan hinaus aus der Küche und suchte mit seinen Augen hektisch den vor ihm befindlichen Raum nach der jungen Frau ab, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Keine rotblonden Haare glänzten ihm entgegen, keine Klamotten voll bunter Farbe stachen ihm ins Auge. Sina war weit und breit nicht zu sehen.
"Sina?", fragte er halblaut in den leeren Raum.
Keine Antwort.
Langsam bewegte sich der Basssänger aus dem kalten Türrahmen, in dem er starr gestanden hatte, heraus und tat einige schleichende Schritte, bis er um die Ecke des Raumes hin zum hinteren Teil des leeren Cafés blicken konnte.
Dort saß sie auf dem Boden mit dem Rücken zu ihm, den Kopf nach unten geknickt.
Schreckhaft weiteten sich die Augen des Braunhaarigen.
"Sina!", rief er aus und eilte zu ihr hin.
Ihm war es egal, ob er sich damit vielleicht in Gefahr begab. Nur ihr Wohl zählte in diesem Moment. Ihr sollte es nicht schlecht gehen. Sie hatten doch noch so viel zu klären und seine Gefühle...
Er kam ihr immer näher ohne auch nur einmal seinen Blick von ihr zu lösen und ihre Umgebung zu mustern. Sein Magen krampfte sich immer weiter zusammen, als er ihr leichtes Zittern in den schmalen Armen wahrnahm.
"Sina?", fragte er wieder, diesmal etwas leiser.
Eigentlich hatte der amerikanische Sänger nicht mit einer Reaktion gerechnet, doch wider erwartens hob die junge Frau ihren Kopf und drehte diesen ihm zu.
"Avriel.", lächelte sie leicht.
Verwirrt darüber, wie sie in diesem Moment schmunzeln konnte, trat er noch näher an sie heran, sodass er nun auch über ihre Schultern blicken konnte und sah, was dahinter war.
Sina bemerkte wohl seinen verdutzten Blick auf das aufmerksam dreinblickende Fellbündel auf ihrem Schoß, denn sie wollte in einem amüsierten und zugleich besorgten Tonfall von dem Braunhaarigen wissen: "Warum guckst du so? ist alles in Ordnung?"
Immer noch überfordert von den ganzen eigenartigen Ereignissen stammelte er: "D-du hast geschrien... Sina, ich dachte, dass dich..." Avriel schluckte schwer. "...dass dich jemand angefallen und verletzt hat." Er konnte all das Geschehen und das, was er nun sah, noch nicht so recht in einen logischen Zusammenhang bringen.
Die Frau mit den rotblonden Haaren lächelte verständnisvoll und brachte damit ihre vielen Sommersprossen zum Tanzen.
"Es ist alles in Ordnung, keine Sorge.", versicherte sie Avriel, der sich mittlerweile neben sie gehockt hatte.
"Und der Schrei?"
Sina lachte.
"Der kleine Kerl hier", erklärte sie und deutete dabei auf den zusammengerollten Kater auf ihren Beinen, den sie unablässig streichelte, "hat mich ganz schön erschreckt, als er aus dem offenen Karton da hinten auf mich zu gesprungen kam. Sicher hat der Kleine auch die Leiter umgeschubst."
Erleichtert zu hören, dass nur dieses Tier der Grund für den Tumult hier im Café verantwortlich ein musste, atmete Avriel laut aus. Kurze Zeit hatte er Angst gehabt, der schönen Frau neben ihm wäre etwas geschehen...

BasstoneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt