Kapitel 7

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Er blieb an der Aushangstelle der Touristeninformation stehen. Ein Wort war ihm im Vorbeigehen aufgefallen: Stadtführungen. Avi Kaplan war schon eine ganze Weile durch den Stadtkern von Warnemünde gestreift, hatte interessante Gebäude gesehen und sich gefragt, was für eine Geschichte sie wohl bargen. Auf einer derartigen Führung hätte er sicher die Möglichkeit, seine Fragen beantwortet zu bekommen, doch konnte er es wirklich riskieren daran teilzunehmen? Was wäre, wenn ihn jemand erkannte? Der Amerikaner säße auf dem Präsentierteller... Aber wenn es danach ginge, würde er nicht überall dieses Risiko haben? Warum hatte er hier gerade solche Bedenken und beim Einkaufen oder bei seinen Strandspaziergängen nicht? Dort hielten sich doch deutlich mehr Menschen auf als bei einer Stadtführung.
Eine geraume Zeit stand Avriel noch grübelnd vor dem Schild, bis er sich letztendlich dazu entschied, die Touristeninformation zu betreten. Augenblicklich wurde er von einem freundlich aussehenden Mann mit blonden Haaren begrüßt.
"Guten Tag. Was kann ich für sie tun?", lächelte er.
Avi trat näher an den Schalter heran und suchte in sich nach den richtigen Worten. Als er sie gefunden hatte, antwortete er: "Ich interessiere mich für die Stadtführung. Wie genau läuft sie ab?"
Unverzüglich kramte sein Gegenüber nach einigen Prospekten und überschüttete ihn förmlich mit Informationen.
"...und wenn sie an einer solchen historischen Führung teilnehmen wollen, müssen sie die Karte dazu schon heute kaufen und ihre Kartennummer hier eintragen.", erläuterte der Verkäufer und zeigte auf ein freies Kästchen.
"Die nächste Führung wäre bereits morgen um 11:30 Uhr."
Avriel war etwas überrumpelt von all den Informationen, die auf ihn einrieselten. Was hatte der Mann mit den blauen Augen gesagt? Bereits morgen... Avi überlegte. Immerhin musste er hier nirgendwo seinen Namen angeben, denn das hätte nur zu Problemen geführt. Er wollte vermeiden, seine Identität irgendwo preiszugeben. Keiner sollte wissen, wer er wirklich war. Die nächsten zwei Monate war er nur ein gewöhnlicher Urlauber, eine unauffällige Person.
Der Sänger musste wohl ziemlich lange einfach nur dagestanden haben, denn plötzlich vernahm er ein Räuspern, das ihn zusammenzucken ließ.
Der freundliche Mann schaute ihn fragend an.
"Ähm... Ich nehme eine Karte.", brachte Avi schließlich heraus.
Lächelnd hielt ihm der Verkäufer sein erstandenes Ticket hin, Avriel trug die darauf befindliche Nummer in den Anmeldebogen ein und verließ ohne weitere Worte das Gebäude.

Ihr Handy klingelte. Beinahe hätte sie es neben dem angenehmen Rauschen des Meeres nicht wahrgenommen. Eilig kramte sie in ihrem Rucksack danach und nahm den Anruf an.
"Hallo Süße!", meldete sich Josua.
"Hi!", lächelte die junge Frau.
"Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass die Führung für morgen früh jetzt voll ist. Soll ich die übernehmen oder willst du?"
Sina überlegte. Ob sie nun eine Stadtführung am Vormittag oder eine nachmittags gab, machte für sie keinen Unterschied
So antwortete sie: "Ich nehme die. Wann ist eigentlich die am Nachmittag?"
"Um 15:00 Uhr. Aber die nehme ich dann."
"Ist gut.", meinte die Rotblonde, "Also bis morgen dann."
"Genieß deinen freien Tag noch schön! Wir sehen uns.", beendete Josua das kurze Telefonat.
Einen Augenblick schaute die junge Frau noch auf das Handydisplay, dann legte sie es wieder beiseite und widmete sich ihrem Buch. Einfach nur den Tag genießen, am Strand sitzen und einen guten Roman lesen. Daran könnte sie sich glatt gewöhnen, doch dieser Tag war einzigartig. Einen solchen hatte es lange nicht gegeben und es würde auch schwer werden, ihn in Zukunft zu wiederholen.
Mit einem leichten Seufzer zog Sina ihre Mütze etwas tiefer ins Gesicht und blickte zum Horizont, wo das tiefblaue Meer in den azurblauen Himmel überging. Ein wunderschöner Anblick, so still und doch so lebhaft...

Glitzernd tanzten einzelne Sonnenstrahlen auf den Wellen, die anscheinend nur dazu da waren, um der Sonne als Spiegel zu dienen. Getragen vom Wasser, angetrieben vom frischen Wind, der aus friedlichem Meereswasser eine bewegte See voll aufschäumender Wellenkronen schuf, tanzten die Lichtflecken umher. Der azurblaue Himmel ließ den Sand auf seinen Füßen in feinem Beige erstrahlen und genehmigte dem ununterbrochenen Fluss aus goldenem Licht, die kleinen Körnchen überall um ihn herum zu erwärmen. Die leise säuselnde Brise spielte mit seinem Haar, wirbelte die Locken umher und zauberte dem jungen Sänger ein sanftes Lächeln auf sein schmales Gesicht.
Avriel genoss die Frische der Luft um ihn herum. Diese Unverbrauchtheit im Vergleich zu der verschmutzten Stadtluft LAs...
Schritt für Schritt näherte sich der amerikanische Basssänger den brandenden Wellen. Je näher er dem kühlen Nass kam, desto eisiger spürte er seine Füße auftreten. Avi Kaplan fröstelte. Oben an den Dünen war der Sand noch trocken und wärmend gewesen, doch nun, hier direkt an den Wellen, war er fest und grausam kalt. Das Wasser kniff in seine Fußsohlen, sodass der Braunhaarige sofort einige Schritte zurückwich. Die Kälte war so intensiv, dass er nicht einmal frieren konnte. Wie tausend Nadeln stach sie in seine Haut. Er glaubte, noch nie so kaltes Wasser auf seiner Haut gespürt zu haben. Trotzdem wagte er sich kurze Zeit später, als der Schmerz schon fast vollständig verschwunden war, wieder an die Wellen heran. Erneut schwappten sie über seine Zehen und erfüllten sie mit Eiseskälte, doch je öfter das Wasser sie berührte, desto geringer wurde der Schmerz. Irgendwann waren seine Füße feuerrot und die Kältestiche nicht mehr zu spüren.
Avriel hob die schwarzen Lederschuhe auf, die er wenige Meter von sich entfernt abgestellt hatte, und lief nun, mit den Füßen im Wasser, den Strand entlang. Die Sonne stand schon tief und nahm allmählich die rot-orangene Farbe vom Vortag an. Wieder bestaunte er das atemberaubende Farbenspiel, während ihn seine Füße weitertrugen.
Auf einmal erblickte Avriel eine Gestalt am Rande der Dünen. Es waren einige Menschen um diese Zeit am Meer unterwegs, doch diese war anders. Wie sie so dasaß strahlte sie eine Ruhe aus, die keine andere Person hier nur ansatzweise in sich trug. Sie sah glücklich aus, irgendwie befreit, als wäre hier auf der Decke mit den roten Punkten, den frischen Wind in den seidigen Haaren und ein Buch in der Hand, eine riesige Last von ihren Schultern abgefallen.
Der Basssänger konnte sich das nicht erklären, aber auf irgendeine Art weckte diese Frau sein Interesse. Bis jetzt hatte es ihn nicht gereizt, sich mit den Menschen in seiner neuen Umgebung zu befassen, doch bei ihr war es anders. Wie ihre rotblonden Locken unter der hellgrauen Strickmütze hervorschauten und sanft in der Meeresbrise umherwallten, konnte sich Avriel schon aus der jetzigen Distanz bis ins kleinste Detail ausmalen...

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