Kapitel 43

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Vollkommen angespannt wartete er darauf, dass die schöne Frau endlich ihre Frage äußerte.
Sie hatte sich von seiner Brust gelöst und saß nun aufrecht, ihm zugewandt auf dem kleinen Sofa und schaute Avriel mit ernster Miene an. Die Frage, die ihr auf dem Herzen lag, musste ihr sehr wichtig sein.
Innerlich hielt Avi Kaplan die Spannung, der sie ihn gerade aussetzte, kaum noch aus. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn bald davon erlösen würde...
"Du...", setzte sie endlich an. "Du hast mir nie den Grund dafür erzählt, warum du hier in Deutschland bist. Ich weiß, dass du eine Auszeit brauchtest, aber wovon?"
Das zweite Mal heute fiel ihm ein riesiger Stein vom Herzen. Was hatte er sich nicht alles für Gedanken gemacht... Avriel versuchte nicht zu lächeln, denn trotz alledem war das ein ernstes Thema, worüber sie nun reden würden.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand er auf und holte seinen Laptop aus dem Schlafzimmer. Kaum hatte er sich wieder neben ihr niedergelassen und seinen Laptop hochgefahren, öffnete der Braunhaarige auch schon die Website seiner Band und dazu noch ein bestimmtes Dokument. Mit einigen Bewegungen seiner Hand war auch schon die Tourübersicht der letzten Jahre zu sehen. Nun drehte er der Rothaarigen den Bildschirm zu.
Fragend musterte sie erst sein Gesicht, warf aber gleich danach einen Blick auf das, was der Laptop ihr zeigte.
Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen, dann erhob sie ihren Blick wieder und traf seinen.
"Das ist euer Zeitplan?"
Avi Kaplan schüttelte den Kopf.
"Nur ein kleiner Teil davon. Das sind nur die Daten unserer letzten Tour.", meinte er ruhig. "Schau dir das an."
Nun zeigte sich der Rothaarigen die zeitliche Dokumentation der letzten Monate vor seinem Flug nach Rostock. Fassungslos schaute sie immer wieder von seinem Laptop zu ihm auf.
"Wie... Wie könnt ihr das nur alles schaffen? Die ganzen Interviews, das Aufnehmen, Videos drehen und dann noch die Touren, die schon allein beinahe das ganze Jahr füllen?"
"Wir haben ein gutes Team, das hinter uns steht.", versuchte er ihr zu erklären.
"Trotzdem ist das viel zuviel..."
"Man gewöhnt sich daran, dachte ich zumindest."
"Und trotzdem ist es dir irgendwann über den Kopf gewachsen.", begriff die junge Frau.
Der Basssänger nickte.
"Deshalb bin ich hier. Ich habe mich einfach nur noch kraftlos gefühlt und konnte mich kaum noch auf unsere Arbeit konzentrieren. Aber zum Glück hatten die Anderen Verständnis für mich."
Er lächelte bei diesem Gedanken. Noch immer war er ihnen dafür unendlich dankbar, nicht zuletzt, weil er dadurch kennen und lieben lernen durfte.
"Ja, zum Glück.", bestätigte die junge Frau und gab ihm einen sanften Kuss auf seine Lippen.

Die Stunden vergingen und je mehr Zeit verstrich, desto tiefer erhielt Sina einen Einblick in das Leben, welches dieser Mann die ganzen letzten Jahre über gelebt hatte. Sie war beeindruckt von dem, was er in den wenigen Jahren, die Pentatonix erst existierte, alles geleistet hatte und fragte sich insgeheim, wie er diesen Druck nur hatte so lange aushalten können. Sie fühlte sich mit ihrem Kindheitstraum hingegen mickrig, obwohl sie immer gedacht hatte, schon so viel in ihrem Leben erreicht zu haben, doch nun wusste die junge Frau, dass sie im Gegensatz zu ihm noch nichts wirklich geschafft hatte. Sie hatte immer gedacht, dass das Leben einer Berühmtheit die meiste Zeit aus luxuriösem Zeitvertreib bestände, doch dem war nicht so. Es gehörte soviel Stärke und Aufopferungswille dazu... Sein Leben war alles andere als entspannt, kaum hatte er Zeit für sich.
Die junge Frau konnte sich nicht vorstellen, ein solches Leben selbst auf Dauer führen zu können. Mit der Zeit würde sie es zermürben, doch wahrscheinlich viel eher, als dies bei Avriel geschehen war...
Sanft schaute sie zu dem Mann auf, um den sich die ganzen Gedanken drehten und an dessen Brust sie gerade lehnte. Die Rothaarige liebte das Geräusch seines Herzens, wie es gegen seinen Brustkorb hämmerte. Für sie war es Musik, der süßeste Klang, den sie außer seiner samtigen Stimme kannte.
Trotzdem hob sie nun ihren Kopf und lächelte den braunhaarigen Mann liebevoll an. Das Licht des noch geöffneten Laptops ließ ihn bleich erscheinen, doch das war ihr egal. Das Lächeln, das er ihrem erwiderte, war so herzlich, so warm, dass sie nicht anders konnte, als sanft seine Wange zu berühren. Sie musste einfach seinen seidigen, stoppeligen Bart unter ihren Fingern spüren, die Wärme seiner Haut fühlen...
Langsam beugte er sich zu ihr herüber, ohne sie auch nur eine Sekunde mit seinen warmen Augen loszulassen. Auch er legte seine Hände auf ihre Wangen und näherte sich ihr noch mehr, bis sich ihre Lippen berührten.
Schon so oft zuvor hatten sie sich geküsst und doch fühlte sich jeder noch so kleine Kuss an, als wäre es ihr erster. Dieses wunderbare Kribbeln und ihr schneller schlagendes Herz versetzten die Rothaarige jedesmal in einen Rausch aus Glücksgefühlen.
Langsam entfernten sich Avriels Lippen wieder von ihren und ein mildes Schmunzeln umspielte seine Lippen.
"Ich liebe dich, Sina. Ich liebe dich so sehr.", flüsterte er durch ihr fuchsrotes Haar fahrend.
Sie gab ihm einen leichten Kuss.
"Ich liebe dich auch."

Mit der Zeit war es irgendwie schon zu einer Art Ritual geworden, dass er die dünnen Stahlsaiten der Gitarre durch seine Finger in harmonische Schwingungen versetzte und Sina ihm dabei, auf dem großen Bett liegend, lauschte, bevor er sich neben sie legte, seinen Arm auf ihrer Hüfte ruhend. Sie schien die sanften Gitarrenklänge wirklich sehr zu lieben, doch selbst spielen konnte die Rothaarige nicht. Sie hatte dem Basssänger vor einiger Zeit mal erzählt, dass sie es immer hatte lernen wollen, aber nie wirklich die Zeit dazu gehabt hatte. Wenn er mehr Zeit hätte hier verbringen können, hätte er es ihr beigebracht, doch ihm blieben nur noch einige letzte Tage in Warnemünde und das war etwas, was ihn sehr bedrückte...
Seufzend setzte sich die junge Frau auf, als er aufhörte, an den feinen Saiten zu zupfen.
"Du spielst so wundervoll.", lächelte sie.
"Danke."
"Aber ich hab dich noch nie singen gehört, außer in euren Videos."
"Du möchtest, dass ich für dich singe?", versicherte Avriel sich.
Sina nickte.
Kurz überlegte Avi Kaplan, was er der wunderschönen Frau vorsingen könnte, ohne dabei auf die Stimmen der Anderen angewiesen zu sein. Ihm kam ein Song in den Sinn, den er vor einem Jahr auf seinem YouTube-Kanal veröffentlicht hatte, ein Song, der den Namen 'Tumbleweed' trug. Er könnte der wunderschönen Frau gefallen, so wie er ihm selbst noch immer sehr gefiel.
Noch einmal atmete der amerikanische Sänger tief durch, dann begannen seine Finger auch schon flink über den dünnen Stahl zu huschen.

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