XLVI Hundertprozentig

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Die erste Schulwoche nach den Herbstferien war absolut anstrengend. So langsam glaube ich, dass ich mit dem Mathe-Leistungskurs eine falsche Entscheidung getroffen habe. Zwar habe ich in der letzten Klausur eine Zwei geschrieben und somit meine Gesamtnote aufgebessert – von einer Vier zu einer Drei – jedoch würde mein Abiturzeugnis damit ziemlich schäbig aussehen.

„Lena, du musst mir helfen, sonst falle ich noch durch", jammere ich weinerlich.

Meine beste Freundin schnaubt. „Du willst ernsthaft an unserem traditionellen Mädchentag, den wir seit gottweißt wie lange nicht mehr gemacht haben, Mathe machen?"

Ja. Das will ich.

„Du bist manchmal echt egoistisch, weißt du das?" Ihre grünen Augen funkeln giftig.

Ich seufze und beschließe, nachzugeben. „Ist ja gut. Hast Recht."

Fröhlich springt Lena aus ihrem Bett, um ihre Nagellacksammlung aus dem Schrank zu holen. „Maniküre und Pediküre Zeit!", verkündet sie.

Schmunzelnd stelle ich fest, dass mir ihren plötzlichen Stimmungsumschwung gefehlt hat.

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„Liebe Grüße von Lorenzo übrigens", sagt Lena, während sie den Nagel meines großen Zehs pink lackiert. Pünktlich zum Schulbeginn ist Lorenzo wieder nach Hause geflogen. Doch davor durfte ich ihn noch ein wenig besser kennenlernen. Ja, ich spreche tatsächlich von „durfte". Lena hat ihn nämlich nicht nur wie einen Schatz gehütet, sondern auch an ihm geklebt. Jede Sekunde.

„Danke, richte ihm auch viele Grüße von mir aus."

Lorenzo ist genau der liebe Kerl, wie Lena ihn beschrieben hatte. Darüber freue ich mich sehr. Ich finde es so süß, wie er sich anstrengt, Deutsch zu lernen. Die bisherige Kommunikation zwischen den beiden bestehen vor allem aus Handbewegungen, Gelächtern und natürlich ... Küssen. Den beiden dabei zuzusehen ist es einerseits lustig, andererseits herzerwärmend.

Lena gibt einen langen Seufzer von sich. „Ich vermisse ihn."

Ich lege den Nagellackpinsel zurück ins Fläschchen und tätschele Lena tröstend an dem Arm. Die Arme. Fernbeziehungen sind für Frischverliebten echt das Schlimmste. Wenn ich mir vorstelle, Anton für zwei Monate nicht sehen zu können, würde ich vermutlich durchdrehen.

„Oh Mann, Süße ... Jetzt lass den Kopf nicht hängen. Bald ist doch Weihnachten, hm?", versuche ich sie aufzumuntern.

Mit weinerlicher Stimme beklagt sie sich: „Du kannst mich nicht verstehen! Du hast ja keinen Freund. Deswegen kennst du dieses sehnsüchtige Gefühl nicht."

„Wer hat gesagt, dass ich keinen Freund hätte?" Dieser Satz flutschte einfach so aus meinem Mund heraus, ohne dass ich mir vorher Gedanken um Lenas Reaktion machen konnte. Für einige Sekunden bleibt meine Frage in der Luft hängen. Ganz langsam hebt Lena ihren Blick, der eben noch auf meine Fußnägel gerichtet war, und mustert mich argwöhnisch. Hastig sehe ich zur Seite. „Ähm ... ", stammele ich nervös und kratze mir am Kopf, „Leo ... Ist er da? Mann, hab ich ihn vermisst. Ich geh-"

ELLA."

Verdammt, verdammt, verdammt!

Willst du mir nicht etwas sagen?"

„Nein?"

Ich könnte mir in den Arsch beißen! Ständig ermahne ich mich selbst, dass ich erst denken, dann reden solle. Bringt natürlich gar nichts. Es ist nicht so, dass ich es Lena nicht erzählen möchte. Ich möchte nur ein wenig abwarten, bis sich die Beziehung zwischen Anton und mir verfestigt hat.

„Ich höre." Lena verzieht ihre Beine in einen Schneidersitz und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Anton und ich ... Wir sind zusammen." Der Versuch, dieses Geständnis so ernst und emotionslos zu machen, scheitert kläglich. Denn sobald ich auch nur seinen Namen ausspreche, schießt mir Röte ins Gesicht und mir wird am ganzen Körper warm.

Theoretisch müsste Lena vor Freude aufspringen. Immerhin ist sie diejenige, die mir dauernd die Ohren volllabert, dass ich mir endlich mal einen Freund suchen solle.

„Ella, ich ..."

Sie seufzt. „Ich freue mich für dich, wirklich. Aber ich finde, dass Anton nicht unbedingt gut für dich ist. Oder, dass du zu gut für ihn bist. Bitte versteh das jetzt nicht falsch. Ich habe nur Angst, dass er dir wehtut. Bevor du ihn kanntest, habe ich das Gefühl, dass du glücklicher warst."

In gewisser Hinsicht hat Lena recht. In der Zeit vor Anton bestand mein Leben nur aus Lernen, Lernen und Lernen. Meine Gefühlswelt blieb leer. Ich musste mich also nicht vor Herzschmerz oder jeglicher psychologischer Verletzung fürchten. Ich glaubte auch, dass ich glücklich gewesen sei. Jedoch wird mir jetzt bewusst, dass durch Anton dieses Glück erst vollkommen ist.

Erleichtert, sie als meine beste Freundin zu haben, und dankbar, dass sie sich um mich sorgt, umarme ich sie.

„Er wird mich nicht wehtun."

Und es stimmt. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.


Bis Sonntag, meine Lieben :)

Wie wir uns nicht ausstehen konntenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt