XXIX The last time

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Bild: Unsere liebe Lena wird von dem Model Chantal Stafford-Abbott verkörpert.

Plötzlich wird meine Tür aufgerissen. Ein telefonierender Papa stürmt in mein Zimmer.

Klopfen??

Ich wende mich mit einem finsteren Blick ihm zu. Ist heute Weihnachten oder warum gestatten mir alle einen Besuch ab? Er legt den Kopf etwas schief, so im Sinne von komm-du-nicht-auch-noch-mit-deinem-Scheiß ...!

So gestresst erlebe ich ihn nicht zum ersten Mal. Habe ich schon erwähnt, dass Papa als Verlagslektor arbeitet? Als ich jünger war, so im Grundschulalter, habe ich mir diesen Job sehr einfach vorgestellt. Man muss im Prinzip ja nur Manuskripten lesen und korrigieren. Na ja, so babyleicht ist das Ganze am Ende natürlich doch nicht. Die Korrektur kann extrem aufwendig sein und manchmal über Wochen dauern. Hinzu kommt die Überarbeitung, da wird auch lange dran gesessen und diskutiert. Letztendlich möchten sowohl die Autoren als auch die Verlage gute Bücher herausbringen.

Was ich eigentlich sagen möchte, ist, dass der Job als Lektor nicht ohne Stress verläuft. Klar gibt es Zeiten, in denen es keine neuen Manuskripten vorliegen. Bei Papa war es mal drei Monate lang so. In den ersten Wochen ist er immer tänzelnd durchs Haus gerannt: „Hach, endlich kann ich den Stress vergessen und ins Freibad gehen."

Ich hasse Freibäder.

Monat zwei und drei: Er verbrachte jeden Tag in der Bibliothek und las Werke von Schiller und Goethe, weil er nicht wusste, was er sonst gegen seine Langeweile tun konnte. Wenn ihr mich fragt, war das Ganze einfach nur KRANK. Ich meine, hallo? Wer verbringt bitteschön seine goldene Freizeit mit alten Gedichten?? Ich. Jedenfalls. Nicht.

Andersrum betrachtet gibt es Phasen, in denen hunderte von Manuskripten abgearbeitet werden müssen. Das heißt: lesen, Notizen machen, überlegen, ob es ins Verlagsprogramm übernommen werden soll, blablabla ... In solchen Zeiten ist Papa besonders launisch. Irgendwie kann ich das auch verstehen. Man liest am Tag fünf Manuskripten und sie handeln allesamt von unterschiedlichen Themen, da dröhnt einem den Kopf. Für jede Geschichte hat man ein anderes Empfinden. Und wenn sich das glückliche Gefühl mit dem gruseligen oder dem traurigen vermischt, dann wird einem irgendwann alles zu viel. Man möchte allen am liebsten nur anschreien oder tot ins Bett fallen. So ging es mir mal, als ich fünf verschiedene Filme hintereinander geschaut hatte. Ich glaube, es waren Harry Potter (Teil 4?), die Unfassbaren (Super Film übrigens!), Crazy Stupid Love (Mein Lieblingsfilm), Dokumentation über antike Griechenland (gähnend langweilig) und Sherlock Holmes (die Serie ist irgendwie besser). Also alle Film Genres auf einem Haufen, überhaupt keine gute Kombination! Danach habe ich mich wie ein brodelnder Vulkan gefühlt, der kurz vor seiner Explosion war.

„Zum x-ten Mal, Wolfgang: ICH HABE ES VERSTANDEN! Bis nächsten Mittwoch ist alles fertig", brüllt Papa aufgebracht ins Hörer. Ich zucke bei seiner lauten Stimme zusammen.

Sekunden Stille folgt. Ich höre diesem Wolfgang irgendetwas quasseln. Papa massiert sich währenddessen mit dem Daumen die Schläfen. Er sieht ziemlich fertig aus. Sein Hemd ist zerknittert, seine blauen Augen, die normalerweise glitzern, sind vor Müdigkeit rot angeschwollen und seine dunklen Locken stehen ihm wirrer auf dem Kopf als sonst.

„Hör mal: Wegen dir habe ich schon seit 48 Stunden nicht mehr geschlafen. Ich bin auch nur ein Mensch, verdammt!"

Pause.

„Dann soll Lara sich um das Projekt kümmern! Mir ist jetzt alles egal. Ich lege auf, bis Montag", sagt Papa in einer matten Stimme. Er lässt das Telefon in die Brusttasche seines Hemdes fallen, schließt kurz die Augen und schenkt mir anschließend ein väterliches Lächeln.

Ich beäuge ihn besorgt. „Papa, du siehst wie ein Pandabär aus. Geh dich ausruhen."

Er kommt näher und tätschelt mir den Kopf. „Später, okay? Zuerst brauche ich das Synonymbuch, würdest du es mir bitte geben?"

Grrr ... Wieso müssen alle männlichen Wesen nur so verdammt sturköpfig sein?

***

14:35

Tatsächlich sitze ich in der U-Bahn, rings um mich fünf Bier trinkende Bauarbeiter, und bin auf dem Weg zu Anton.

Vorhin hab ich für einen kitzel kleinen Moment beschlossen, Anton zu versetzen. Zur Hölle mit meiner Mathe Note. Solange ich nicht weiß, was meine Gefühle bedeuten, kann ich diesem Jungen nicht unter die Augen treten.

Doch dann rief Lena an. Ich habe mich gefreut, weil sie mir in den letzten Tagen gefehlt hat. Wir haben, seit ich sie mit Anton zusammen erwischt habe, kein Wort mehr miteinander gewechselt. Ich war sauer. Wahrscheinlich darüber, dass sie und Anton so viel Spaß hatten. Mein Verhältnis zu Anton könnte nie so locker werden. Im Gegensatz zu Lena bin ich einfach nicht sehr humorvoll oder kontaktfreudig.

Lena hielt es anscheinend auch nicht für nötig, mir eine Art Erklärung zu geben. Ich weiß, dass das eigentlich ihre Privatsache ist. Ich habe kein Recht ihr zu verbieten, mit einer bestimmten Person rumzuhängen, nur weil ich denjenigen nicht leiden kann.

Jedenfalls wurde mein Plan nach unserem Gespräch komplett umgeworfen.

(Flashback: Das Telefongespräch mit Lena)

14:05

Das Vibrieren meines Handys lässt mich vom Stuhl aufspringen. Gott, bin ich schreckhaft.

„Anruf von Lena", steht auf dem blau beleuchtenden Display. Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem leichten Lächeln. Na endlich!

„Hey."

„Ella. Hi", grüßt mich meine Freundin mit einer nervösen Stimme.

Stille. Verlegene Stille.

„Es tut mir so leid", wispert sie kaum hörbar.

„Mir auch, ich habe überreagiert."

Ich höre am Ende der Leitung, wie sie tief Luft holt.

„Nein. Ich habe Mist gebaut. Bitte versprich mir, dass du nicht allzu sauer wirst, wenn ich es dir gleich erzähle."

Eine Woge des Unbehagens überfüllt mich. Das klingt gar nicht gut. Plötzlich verspüre ich das dringende Bedürfnis, schreiend auf die Terrasse zu rennen und das Handy in den Horizont zu werfen.

„Ich habe Anton etwas Persönliches von dir erzählt, beziehungsweise, er wollte unbedingt mehr über dich erfahren."

Mein Atem stockt. Gleichzeitig wird mir heiß und kalt.

„Wie persönlich?", hake ich nach. Und vor allem: Warum wollte er mehr über mich erfahren?

„Was deine Körbchen-Größe angeht, weiß er nun Bescheid", gibt sie kleinlaut zurück.

„Er weiß was?!", schnappe ich entsetzt nach Luft, „worüber habt ihr bitteschön geredet??"

Sie stöhnt verzweifelt. „Über was Männer an Frauen attraktiv finden. Ihm sind Haare und Augen übrigens am wichtigsten, falls dich das interessiert. Jedenfalls haben wir irgendwann angefangen, alle Mädels im Raum abzuchecken. Als wir dann bei dir waren, ist mir das einfach so rausgerutscht ... Bist du sauer?"

Und ob ich das bin! Mein Puls rast vor Wut.

„Hat er dich zuerst angesprochen?", bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ihr Ja gibt mir das Stichwort, Anton ein letztes Mal zur Rede zu stellen.

Wie wir uns nicht ausstehen konntenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt