XLI Zur Hölle mit Abstand & Co.

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- All meinen lieben Lesern gewidmet -

Bild: Ellas Kleid

(Sicht) Anton

Bunt,

schrill,

verrückt.

Das beschreibt die drei Seiten, die ich soeben neu an Ella entdeckt habe. Zumindest besagt die Einrichtung ihres Zimmers diese. Und ich bin überrascht. So wie immer. Alles, was mit diesem Mädel in Verbindung steht, haut mich regelmäßig um, sowie die Wirkung einer Flasche Whisky auf einen sonst nicht trinkenden Menschen.

Bisher kenne ich nur ihre „makellosen" Seiten. Aber wie sie außerdem so ist, was sie gern macht oder wie sie sich in meiner Gegenwart fühlt, darüber habe ich noch nie richtig nachgedacht. Ich denke an die Zeit zurück, die wir zusammen verbracht haben. Oder besser gesagt, die Zeit, die ich ihr gezwungen habe, mit mir zu verbringen. Ich erinnere mich an all ihre Beschimpfungen.

Arschloch, Dreckskerl, Blödmann.

Plötzlich wird mir bewusst, wie unfair und egoistisch ich sie behandelt habe. Sie hat sich in meiner Nähe furchtbar gefühlt. Ich stütze die Ellenbogen auf meinen Oberschenkeln und umklammere mit beiden Händen meinen Kopf, während ich das schlechte Gewissen, das sich Stück für Stück in mir aufbaut, zu unterdrücken versuche.

Was kümmert dich auf einmal ihre Gefühle? Auch wenn du dich ihr gegenüber wie der letzte Dreck benommen hast, sie hätte sich wehren können. Der Knackpunkt ist doch, dass sie mitgemacht hat. Ihr beide tragt die Schuld an der jetzigen Situation.

Ich wuschele durch meine Haare und fluche leise. Ich darf nicht zu viel nachdenken. Vor allem nicht über ein Mädchen. Und ich sollte Abstand zu Ella halten. Sie ist das erste Mädchen seit damals, mit dem ich mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann. Sei sie eine oder gar meine Freundin. Aber ich muss diese Vorstellung aus dem Kopf verbannen, bevor ich mich in sie ...

verliebe.

Liebe, dieser Begriff jagt mir Scheißangst ein.

Ich gehe aus ihrem Zimmer und bleibe kurz vor der Tür des Badezimmers stehen, bevor ich abhaue. Es ist sonnenklar, dass Party nicht ihr Ding ist. Ich wünschte, dass ich sie bisschen besser kennen würde, dann könnte ich vielleicht erraten, warum sie trotzallem, was ich ihr angetan habe, sich auf mich einlässt.

Schweren Herzens verlasse ich das Haus und schlendere zu meinem Auto. Ich bin ein aufrichtiger Idiot, der ein liebenswürdiges Mädchen erst stundenlang nervt und anschließend wortlos zurücklässt.

Ich bin dabei loszufahren, als die Tür des Beifahrersitzes aufgerissen wird. Ella setzt sich hinein.

„Ein wenig Geduld könnte dir in der Zukunft echt nicht schaden", sagt sie neckend.

Sie wirft ihren langen, brauen Haaren zurück. Sofort steigt mir einen leckeren Himbeerduft in die Nase. Tief sauge ich diesen Duft, von dem ich selten genug bekomme, ein. Anschließend mustere ich sie von oben bis unten.

Verdammt.

Ich hätte dieses Kleid nicht aussuchen dürfen. Ella sieht darin wahnsinnig sexy aus. Sowohl die Farbe als auch der Schnitt des Kleides betonen ihre Figur perfekt. Die anderen Jungs auf der Party werden sie wie verrückt anbaggern, das ist absolut sicher.

Aber sie gehört MIR.

Hast du nicht eben was von Abstand erwähnt??

Habe ich das?

JA!?

Nachdem ich sie förmlich mit meinen Blicken ausgezogen habe, wandern meine Augen zurück zu ihrem Gesicht. Durch die dunklen Lidschatten stechen ihre kristallblauen Augen noch mehr heraus als hervor. Ihre Lippen, die einen himbeerroten Ton angenommen hat, sind leicht geöffnet und rauben mir beinahe den kompletten Verstand.

Ach, zur Hölle mit Abstand.

Sie zupft nervös an ihrem Kleid rum. „Sehe ich so katastrophal aus?", fragt sie panisch.

Ich presse die Lippen zusammen, um nicht breit zu grinsen. Ihre Unsicherheit gehört zu einer der Eigenschaften, die mich fesselt.

Ich lehne mich vor. Ihre Augen weiten sich. Ich spüre keinen warmen Atem mein Gesicht streifen, was hindeutet, dass sie die Luft anhält. Meine Mundwinkel wandern automatisch nach oben und bilden das sexy Lächeln, das haufenweise Mädchen umfallen lässt. Ihre Wange nimmt eine leichte Röte an. Erleichterung und Glücksgefühle durchströmen meinen Körper. Meine Anwesenheit scheint sie nervös zu machen. Und ich höre lautes Herzklopfen. Von ihr? Oder von mir?

Unglaublich, aber werde ich ernsthaft unruhig in ihrer Nähe?

Dicht an ihrem Ohr halte ich an und versichere ihr flüsternd: „Nein. Du siehst fantastisch aus."

Ihre Wange wird schlagartig dunkelrot. Ich lehne mich so weit zurück, dass unsere Gesichter nur wenig Zentimeter voneinander entfernt sind und wir uns in die Augen sehen können. Sie lächelt leicht. „Danke", wispert sie verlegen.

Ich nehme ein paar ihrer Haarsträhnen und klemme sie ihr hinters Ohr. „Gern geschehen ..."

Ich betrachte ihre vollen, verführerischen Lippen. Wie kann es passieren, dass ich diesem Mädchen verfallen bin? Ein Mädchen, das voll und ganz ein Beziehungstyp ist? Das man auf keinen Fall als ein Bettflittchen benutzen kann? Wegen ihr verwandle ich mich echt wieder zu einem guten Kerl, wie sich es Isabel wünscht. Seit über einen Monat passe ich Partyeinladungen und meide jegliche Art von Signalen der Mädchen auf Sex. Ich sehne mich, so unglaubwürdig es auch klingen mag, nach Bindung.

Die Angst vor Schmerz, das mangelnde Vertrauen, das geringe Wissen. Alles ist so gleichgültig.

Jedoch die Regel ...

Mich nie wieder auf jemanden einlassen, denn wer zuerst Gefühle entwickelt, wird zuerst verletzt.

Kann ich sie brechen? Will ich sie wirklich brechen?

Ich lege eine Hand um ihren Nacken, bereit, sie an mir zu drücken.

„Wenn du es nicht zulässt, dass ich dich küsse, dann sag in den nächsten drei Sekunden stopp."

Eigentlich bin ich nie der Typ gewesen, der ein Mädchen vor dem Küssen um ihre Erlaubnis bitte. Ich habe es bei Ella getan, weil ich nicht erneut etwas gegen ihrem Willen tun möchte.

Sie sagt nichts, sondern blickt mir geradewegs in die Augen. Ihre Miene ist unergründlich. Für den Bruchteil einer Sekunde überlege ich mir es zu lassen. Doch mein Verlangen übertrifft mich. Ich hebe ihr Kinn leicht an und nähere mich ihr Gesicht, den Blick fest auf ihren Mund gerichtet. Kurz bevor die letzten Zentimeter überwunden werden, höre ich - „Stopp."

Abrupt lasse ich sie los. Ich habe vor mich wegzudrehen.

Ich geb's zu, dass ich Abweisungen schlecht verkrafte. Wahrscheinlich steht nun das Wort „niedergeschlagen" dick und fett auf meiner Stirn geschrieben.

Jedoch hält mich Ella am Arm fest. Sie schüttelt den Kopf.

Schon klar, ich hab's verbockt.

Sie wendet mir vollständig zu, legt sie ihre Arme um meinen Nacken und zieht mich näher ran. „Du hast mich bereits ZWEI MAL geküsst. Ich darf wohl auch mal dran kommen."

Dann überwindet sie den letzten minimalen Abstand zwischen uns und beginnt ihre Lippen langsam gegen meine zu bewegen. Ich muss aufgrund ihrer Schüchternheit schmunzeln. Mit einem Arm umschlinge ich ihre Taille. Für einen Moment erwidere ich ihren Kuss ebenso langsam und zärtlich. Doch alles in mir schreit nach mehr Intensität. Nach ihr. Ich will sie zeigen, wie viel sie mir bedeutet. Ich verstärke den Druck. Unsere Lippen pressen sich hart aufeinander. Ich küsse sie leidenschaftlich und drängend. Sie vergräbt beide Hände in meinen Haaren, während sich unsere Zungen berühren. Adrenalin rauscht durch meinen Körper. Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt. Kein Mädchen hat mich jemals so geküsst wie Ella es gerade tut.

Unglaublich. Phänomenal. Atemberaubend.

Wie wir uns nicht ausstehen konntenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt