XXXI Cinderella

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(Sicht) Anton

Ich sehe zu, wie Ella diesem Mistkerl nach draußen folgt und balle meine Hand zu einer Faust zusammen. Am liebsten hätte ich sie an der Taille gepackt und zurückgezogen. Sie soll, verdammt nochmal, bei mir bleiben! So schwachsinnig es auch klingen mag: Ihre Gegenwart betäubt mich. Wenn sie da ist, dann scheinen alle Probleme plötzlich ganz weit weg zu sein und ich fühle mich unglaublich entspannt. Ich weiß nicht, wie sie es schafft. Vielleicht, weil sie eine sehr interessante Person ist. Sie erzählt nie viel von sich selbst und dieses geheimnisvolle Getue macht mich wahnsinnig.

Genervt fahre ich mit einer Hand durch meine Haare. All meine Glieder schmerzen. Franz, dieser unverschämte Dreckskerl, traute sich tatsächlich zurückzuschlagen! Doch meiner Schwester war das Prügeln wert. Mit einem pochenden Kopf begebe ich mich in Richtung Bad, das auf der anderen Seite meines Zimmers liegt. Unterwegs ziehe ich mein Shirt über den Kopf. Meine Jeans lasse ich ebenfalls achtlos zum Boden fallen. Das Chaos in meinem Zimmer ist mir grad so egal, ich bin sowieso nie ein ordentlicher Mensch gewesen und werde es auch nicht sein. Außerdem kommt morgen Uli, unsere Putzfrau, vorbei, da kann ich mir die Zeit zum Aufräumen sparen.

Im Bad angekommen schlüpfe ich unter die Dusche und lasse solange kaltes Wasser über mich laufen, bis mein Verstand wieder einigermaßen klar ist. Anschließend schalte ich zum warmen Wasser um. Ich bereue, dass ich Franz geschlagen habe. Das war unüberlegt von mir. Gewalt ist keine Lösung. Andererseits ... Du, als Bruder, siehst deine Schwester heulend nach Hause stürmen, weil sie herausgefunden hat, dass ihr ach so toller Freund sie betrogen hat. Da kann man nicht anders reagieren. Außerdem war Franz selbst Schuld, hätte er sich nicht blicken lassen, dann hätte Isabel auch nicht rumgeschrien, dann wäre ich auch nicht handgreiflich geworden.

Apropos Isabel ... Wie es ihr wohl geht? Vorhin, als ich Franz aus ihrem Zimmer gezerrt habe, saß sie mit rot angeschwollenen Augen im Bett. Ich sollte dringend nach ihr gucken. Nicht, dass sie am Ende noch auf dumme Gedanken kommt. Meine Schwester ist in Sache Trennung ein hoffnungsloser Fall.

Ich drehe den Wasserhahn zu und trete aus der Dusche. Meine Haut ist von dem langen Duschen ganz durchweicht. Grob trockene ich mich ab, trage etwas Aftershave auf und wickele ein Handtuch um meine Hüfte.

Als ich die Tür öffne, klappt mir die Kinnlade herunter. Dieses Mädchen ist absolut unglaublich. Noch nie konnte mich ein Mensch sooft überraschen. Vor mir liegt ein perfekt aufgeräumtes Zimmer. Die Bücher stehen ordentlich nebeneinander im Regal, die Hefte befinden sich übereinandergestapelt auf dem Schreibtisch. Was zum Teufel soll das? Ich muss mächtig die Augen verdrehen, denn das Gefühl, wie ein Baby behandelt zu werden, steigt in mir hoch. Und ich hasse es.

Dieser Gedanke verfliegt, als ich sie friedlich schlafend in meinem Bett entdecke. Augenblicklich muss ich schmunzeln. Überraschung Nr. 2. Ella in meinem Bett. Wer hätte es gedacht? Für mich ist sie zwar nicht unbedingt schüchtern, aber verkrampft wie ein Stock.

Breitgrinsend schlendere ich aufs Bett zu. Ella liegt auf der Seite, das Gesicht halb im Kissen vergraben, die Arme und Beine leicht angewinkelt. Ich lege mich ihr gegenüber und lausche ihren gleichmäßigen Atemzügen. Behutsam streiche ich ein paar Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Beginnend bei ihren Augen, schweift mein Blick zu ihrer schmalen Nase und letztendlich zu ihrem erdbeerroten Schmollmund. Das ist wahnsinnig sexy. So etwas zu besitzen sollte echt verboten werden. Ich kann nicht widerstehen mit dem Daumen leicht darüber zu streichen. Am liebsten würde ich sie sogar küssen, halte mich aber zurück. Ich habe vor, sie ab jetzt anständig zu behandeln. Ella ist kein Mädchen für Gelegenheitsknutschen oder Sex. Sie ist eine Art Cinderella, die einen charmanten Prinzen verdient und mit ihm den Rest ihres Lebens glücklich verbringt. Ich hoffe nur, sie verzeiht mir, dass ich ihr nicht beigestanden habe, als in der Schule mächtig über uns gelästert wurde. Aber das habe ich ihr zugunsten getan, weil, wenn wir ständig zusammen unterwegs gewesen wären, dann hätte das alle nur noch mehr provoziert. Die anderen Mädchen hätten was weiß ich Schlimmeres anrichten können als nur lauthals zu Schimpfen. Das will ich natürlich nicht. Ella sollte nie wegen mir körperlich verletzt werden.

Das Vibrieren meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken. Ich löse widerwillig den Blick von Ellas wunderschönem Gesicht und greife nach dem rechteckigen Ding, das auf dem Beistelltisch neben meinem Bett liegt.

„Anruf von Moritz"

Nicht jetzt, Kumpel. Trotzdem gehe ich ran.

„Was gi- "

„Anton, bist du zu Hause? Wenn ja, fahr weg. Sofort!", befiehlt mir mein Freund barsch.

„Alter: Entspann dich. Was'n los?", sage ich ruhig.

„Mach einfach!"

Sekunden Pause. Hörbares tiefes Einatmen.

„Stella ist auf dem Weg zu dir, sie hat den Schlüssel."

Meine Augen weiten sich. Verdammt, verdammt, verdammt! Mit einem wütenden „Wie konntest du nur" lege ich auf. Stella ist der letzte Mensch, den ich begegnen möchte. Es reicht doch schon, dass wir uns unter der Woche jeden Tag in der Schule sehen! Wann kapiert sie endlich, dass ich kein Interesse an ihr habe?

Ich fasse Ella an den Schultern und rüttele sanft.

„Aufwachen", flüstere ich und muss wieder ein wenig lächeln. Sie ist so süß!

Anscheinend schläft sie nicht tief, denn sofort beginnt sie sich zu recken. Langsam schlägt sie die Augen auf. Diese strahlenden Augen, die mich jedes Mal wegen ihres Blaus überrumpelt, starren mich geschockt an.

„Anton du Perverser! Warum bist du halbnackt?"

Wie wir uns nicht ausstehen konntenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt