V Männerdusche

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Ich sitze immer noch auf dem Tisch und bin bisschen verwirrt. Der Typ ist zwar biologisch gesehen 18, aber geistig ist er definitiv erst 5. Ich meine, noch kindischer kann man nicht sein, oder?! "Du wirst dafür sehr büßen." Hahaha, für was denn? Nur weil ich ihn gesagt habe, dass er Respekt gegenüber anderer Person zeigen solle? So ein Arsch!

Nach dem ersten anstrengenden Schultag (wessen Schuld auch immer) will ich einfach nur nach Hause und mich auf mein Bett schmeißen. Doch nachdem ich die Haustür geöffnet hatte, wurde ich überrascht... Und zwar von einer sehr ungünstigen Szene.

Enni saß nur mit einem Slip auf einem komplett nackten Typ. Die Hände von diesem Typ lagen auf Ennis Brüste und Enni hat ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Beiden knutschten wild. O. Mein. Gott. Ich drehe mich auf der Stelle um und gehe wieder raus.

Okay, ich geb's zu, vielleicht bin ich wirklich bisschen verklemmt. Wenn ich Enni in so einer Situation erwische, schäme ich mich. Nicht für sie, sondern eher für mich. Ich komme mir immer wie ein Eindringling vor, der etwas Verbotenes sieht.

Ich laufe die Straße entlang und überlege, wo ich hingehen soll. Lena ist nicht zu Hause, da sie heute Handballtraining hat... Nach einer Weile Hin- und Herüberlegen beschließe ich bei meinem Lieblingscafe "Lisa" mal vorbeizuschauen. Es ist zwar klein, aber ich schwöre euch, dort gib's die besten Kaffee und Kuchen von ganz Berlin. Außerdem liebe ich die wundervolle Liebesgeschichte zwischen dem Cafebesitzer Thomas und seine Frau Lisa.

Vor 30 Jahren lernten sich Thomas und Lisa in ihrem Lieblingcafe kennen. Sie verliebten sich ineinander, heirateten und bekamen ein Kind, Franz. Doch Lisa starb bei der Geburt von Franz und Thomas war am Boden zerstört. Jeden Tag betrank er sich. Bis er eines Tages mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus landeten. Als er wieder aufwachte, schrie ihn Lisas Mutter an: "Sag mal Thomas, drehst du jetzt völlig durch oder was?! Wir sind auch traurig, dass Lisa nicht mehr da ist! Aber wenn du auch noch gehst, was wird dann aus Franz? Willst du, dass er Vollwaise wird?! Lisa hätte es nicht gewollt, dich so zu sehen!" Dann begann Thomas endlich wieder zu arbeiten und sich um Franz zu kümmern. Als Franz schließlich groß wurde, ging er in Rente und eröffnete ein Cafe. Für Lisa.

Zehn Minuten später erreiche ich das Cafe zu Fuß und trete ein. Heute ist nicht viel los, es sind nur drei, vier Gäste da.

Thomas steht wie immer hinter der Theke und ist vertieft in seiner Arbeit. Ich schleiche mich zu ihm heran.

"Hey Thomas!", rufe ich laut. Er zuckt zusammen. „Meine Güte, Ella! Du willst den alten Herrn doch nicht zu Tode erschrecken!"

Ich lache auf. „Aber nein! Ich hab dich doch sooo lieb!", sage ich zuckersüß. Das mit dem Erschrecken sollte ich in der Zukunft wohl lieber lassen, immerhin ist Thomas schon über sechzig.

Er schüttelt schmunzelnd den Kopf. „Wie geht's dir, Ella?"

„Gut, danke. Und dir?"

Er rückt seine Brille zurecht und antwortet: „Mir auch. Bei dem schönen Wetter ... wie sollte einem da schlecht gehen?"

Ich lächele.

„Wie sieht's aus? Wie immer ein Stück Erdbeer-Sahne-Torte mit einer Latte?", fragt mich Thomas liebevoll. Er kennt mich einfach zu gut.

"Gerne. Danke Thomas."

"Setzt dich ruhig hin, dauert 'nen Moment", sagt Thomas.

Ich gehe zu meinem Stammtisch, doch es ist von einem ziemlich hübschen Mädchen besetzt. Ihre langen und hellblonden Haare fallen ihr über die Schultern. Sie liest gerade ein Buch und nippt dabei an ihrem Kaffee.

"Entschuldigung? Ist hier noch frei?", frage ich höflich und deute auf den Platz ihr gegenüber. Ich könnte mich zwar auch woanders hinsetzen, aber nur von diesem Tisch aus hat man einen faszinierenden Blick auf den Garten.

Sie hebt ihren Kopf und sieht mich mit ihren schokobraunen Augen an. Wow. Hellblond und dunkelbraun. Eine echt ungewöhnliche Kombination.

„Ja klar, setz dich hin", antwortet sie mir lächelnd.

"Danke", sage ich und lächele zurück.

Wenig später kommt Thomas mit einem Tablett in der Hand. „Na, ihr beide? Hat Franz dir eigentlich schon Isabel vorgestellt, Ella?"

Ich schaue verwundert zwischen Thomas und dem Mädchen namens Isabel hin und her. „Nein, nicht das ich wüsste."

Franz ist mittlerweile zu einem jungen Mann herangewachsen. Er ist 23 und studiert Anglistik, da beschäftigt man sich mit der englischen Sprache, der englischen Literatur und der englischen Kultur. Franz will nämlich entweder Dolmetscher oder Bibliothekar werden.

Isabel streckt mir eine Hand entgegen. „Hey. Du bist also Ella? Freut mich dich endlich kennenzulernen."

Endlich? Sie ist doch nicht etwa ... Ich nehme ihre Hand an und schüttele sie. „Hi Isabel. Bist du mit Franz zusammen?"

Sie sieht mich überrascht an und wird rot. „Woher ...? Hat Franz es dir schon erzählt?"

Ich schüttele lächelnd den Kopf. „Mein sechster Sinn", erkläre ich ihr mit einem Augenzwinkern.

Ich kann es nicht fassen, dass Franz mir nichts erzählt hat! Wir sind immerhin beste Freunde ... Oder ist der Begriff Geschwister eher zutreffend? Unser Verhältnis zueinander ähnelt dem eines großen Bruders und einer kleinen Schwester. Er hilft mir immer, wenn ich Probleme habe. Wieso aber lässt er mich nicht an seinem Leben teilhaben? Ich will ihn schließlich als allererste die besten Wünsche ausrichten!

„Ich bin so erleichtert, dass du nicht sauer bist", sagt Isabel auf einmal.

Nun bin ich wieder verwirrt. „Wieso sollte ich sauer sein?"

„Na ja. Franz hat mir viel von dir erzählt. Ich weiß, dass du so gut wie seine kleine Schwester bist. Ich hatte Angst, du könntest mich nicht akzeptieren ... Vielleicht aus Eifersucht, weil ich Franz dir sozusagen weggenommen habe", erwidert sie kleinlaut.

O Mann! Wie hat Franz mich bitteschön dargestellt? Bin ich so engherzig oder was?

„Isabel, ich weiß nicht, was Franz dir erzählt hat. Aber ich kann dir versichern, dass ich meinen besten Freund sehr gerne mit dir teile."

Abermals stößt sie einen erleichterten Seufzer aus.

Franz, DAS zahle ich dir zurück. Anscheinend hast du nur schlechte Worte über mich verloren. Deine Freundin hat ja wirklich Angst vor mir.

Eine unangenehme Stille entsteht. Ich sehe Isabels Mundwinkel leicht zucken. Daraufhin kichern wir beide los. Und hören erst auf, als unsere Bäuche anfangen, wehzutun. Anschließend nimmt sie meine Hand und entschuldigt sich für ihre unsinnigen Sorgen.

„Ist doch nicht schlimm, ich verstehe dich vollkommen ... Los, erzähl: Wo und wie habt ihr euch kennengelernt? Ich will alle Details wissen." Meine skandalsüchtige Seite ist geweckt.

Sie wird rot. „In der Männerdusche ..."

„In der MÄNNERDUSCHE?", wiederhole ich ungläubig. Nun bin ich mehr als aufmerksam.

Wie wir uns nicht ausstehen konntenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt