Irgendwo im Nirgendwo

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Der Zug rauschte durch den Tunnel. Ich mag Tunnel. Als Kind hatte ich immer so getan, als könnte ich in der kurzen Dunkelheit ganz toll schlafen. Aber natürlich hatte ich nicht geschlafen. Ich hatte nur die Augen zu gemacht und wenn wir dann am anderen Ende wieder ins Licht gefahren waren, hatte ich die Augen wieder aufgemacht. Auch jetzt noch empfand ich in Tunneln ein Gefühl von Geborgenheit.
Der Zug sauste auf den Ausgang zu. Helles Sonnenlicht blendete mich.
Das Handy in meiner Tasche vibrierte. Aha, ich hatte wieder Empfang.
"Ich vermisse dich jetzt schon", schrieb Jana.
" Ich dich auch ;-*", schrieb ich zurück und schaltete das Handy wieder aus. In wenigen Minuten musste ich da sein, also kletterte ich auf den Sitz und zerrte meinen Koffer von der Gepäckablage. Die Fahrt von meinem Heimatkaff bis zu der Kleinstadt, in der das Internat lag, brauchte nicht einmal eine Stunde und umsteigen musste ich auch nicht.
Die verzerrte Stimme im Lautsprecher kündigte den nächsten Halt an und ich beeilte mich zur Tür zu kommen.
Vier Gleise hatte der Bahnhof, an jedem Gleis standen zwei Fahrkartenautomaten und außerdem je ein Süßigkeitenautomat und ein Getränkeautomat. Und das wars dann auch schon. Kein Bahnhofsgebäude, kein Bäcker, kein McDonald. Nichts.
Ich zog meinen Handy wieder heraus und lud Google Maps.
Der Empfang war auch furchtbar.
Jana hatte wieder geschrieben. "Bist du schon angekommen?"
"Gerade ausgestiegen", antwortete ich.
Mittlerweile hatte Google geladen. Ich gab meinen Zielort ein und ließ mich von der höflichen Stimme durch die Straßen führen.
Ich kam an einer Eisdiele vorbei und gönnte mir ein Joghurteis und drei Minuten später stand ich schon auf dem Parkplatz vor einem großen, breiten Gebäude. Es hatte zwei Flügel und eine Menge an Anbauten und kleiner Nebengebäude, dazu kamen große Rasenflächen, geschmückt mit einzelnen alten, knorrigen Bäumen. Am Parkplatz stand in großen Buchstaben KAFKA - INTERNAT. Was für ein Name.
Bewaffnet mit Koffer, Eis und Handy folgte ich dem Weg zum Haupteingang. Bevor ich mich hineinwagte, aß ich mein Eis auf. Zwei jüngere Mädchen liefen an mir vorbei und schauten mich dabei an, als wäre ich ein Okapi. Ich betrat hinter ihnen das Gebäude.
Drinnen empfingen mich sanfte Kühle und angenehme Ruhe. Die Wände und Böden waren von glattem Stein ausgekleidet, irgendwie verströmte er eine starke, gelassene Atmosphäre.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich nach dem Sekretariat und dem Büro der Direktorin suchen sollte und ich hatte auch keine Lust, durch die ganze Schule zu irren und in jeden Flur zu schauen. Noch peinlicher gings ja nicht.
Entschlossen lief ich auf einen Typen zu, der an der Wand gegenüber dem Eingang lehnte und eifrig in seinem Handy herumtippte.
"Entschuldigung, kannst du mir sagen, wo das Sekretariat ist?", fragte ich freundlich.
Er sah auf und musterte mich gründlich. Dann grinste er. "Ja, kann ich schon."
Ich wartete.
Er auch.
"Und tust du es auch?", fragte ich schon nicht mehr so freundlich.
"Ja, von mir aus."
Ich wartete wieder. 
Nichts.
"Ja dann sag mal!" Mann, war der dumm?
"Einfach die Treppe da hoch und dann gleich gegenüber", er deutete auf eine Treppe zehn Meter links von uns.
Ohne ein weiteres Wort steuerte ich auf die Treppe zu. In meinem Rücken hörte ich ihn lachen.
Idiot.
Die Wegbeschreibung war richtig gewesen. Nachdem ich meinen Koffer die Treppenstufen hinaufgewuchtet hatte, stand ich quasi direkt von dem Türschild, das mir das Sekretariat und das Direktorat ankündigte.
Zaghaft klopfte ich an. Jetzt war ich doch aufgeregt. Ich hasste es, irgendwo neu anzukommen. Ich hatte immer die unerklärliche Angst, ich könnte mich geirrt haben. Vielleicht hätte ich ja doch schon gestern kommen sollen. Oder erst morgen. Oder letzte Woche. Oder nächste Woche. Oder ich war im falschen Ort ausgestiegen.
Okay, nein, das war nun wirklich sehr unwahrscheinlich. Schließlich stand nicht in jedem Ort ein Internat, das zufälliger Weise auch noch Kafka-Internat hieß. Und immerhin hatten meine Eltern mich geschickt und die hatten sich mit dem Tag wohl kaum vertan. Aber vielleicht war ja mit der Anmeldung etwas schief gegangen?
Bevor ich mir noch mehr Gedanken machen konnte, rief mich eine warme Stimme herein.
Das Sekretariat war mit hellen Orangetönen ausgestattet. Von dem Stein, der die Flure ausgekleidet hatte, war hier nichts zu sehen. Stattdessen empfingen mich farbige Tapeten, hölzerne Schränke und große Fenster. Hinter dem  großen Tresen in der Mitte stand eine ältere Dame und sah mir mit einem netten Lächeln entgegen.
"Na, was gibt's denn?", fragte sie und das Lächeln schwang in ihrer Stimme mit.
Ich ließ den Koffer an der Tür stehen und trat näher.
"Ähm, ich wollte mich anmelden. Meine Eltern haben gesagt, dass ich hier her kommen soll." Ich hasste mich dafür, wie unsicher das klang.
Ich straffte die Schultern und richtete mich gerade auf. Ich war kein kleines Kind mehr. Ich war groß und selbstständig. Ich war 17, auch wenn es sich gerade nicht so anfühlte.
Die Dame lächelte nachsichtig. "Dann bist du Lynn, oder? Wir haben dich schon erwartet."
Ich entspannte mich etwas. Diese Frau war völlig in Ordnung.
"Deine Unterlagen haben wir schon, du kannst also direkt zu Frau Tutleyv weiter." Sie deutete auf eine Tür im hinteren Teil des Raumes.
Tutleyv war die Direktorin, so viel wusste ich zumindest. Was wollte die denn von mir?
Mit einem mulmigen Gefühl stapfte ich in die angegebene Richtung.
"Keine Sorge, Schätzchen", ermunterte mich die Sekretärin, "Frau Tutleyv möchte nur jeden Schüler kennen, der auf ihre Schule geht."

Just another BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt