Die Hoffnung

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Berlin, im April 2012


„Ihr macht bitte was auf dieser komischen Party?", fragte Irina entsetzt, als sie sich die Schilderungen ihrer drei Kolleginnen, die diesen Job ohne groß zu überlegen angenommen hatten, anhörte.
„Ist doch nichts dabei", meinte Stella und biss genüsslich in ihr Käsebrot. „Ob wir's jetzt mit den Typen auf ner Bühne treiben oder ob die zu uns kommen. Und die ganzen anderen Sachen sind auch nix, was wa nich schon gemacht hätten."

Irina schüttelte sich bei dem Gedanken. Sie hätte diesen Job auf keinen Fall angenommen. Zwar würde jedes der Mädchen satte zweitausend Euro dafür kassieren, die sie auch tatsächlich komplett behalten durften... aber den Verlust der letzten Würde, die sie noch glaubte, zu haben, konnte man damit sicherlich nicht ausgleichen.
Zwar musste sie für diese Summe - abzüglich der Zimmermiete und dem Teil, den Ronny kassierte - normalerweise wochenlang arbeiten und im Endeffekt ja viel mehr machen, als sich zwei Stunden lang während eines Konzerts erniedrigen zu lassen, aber das kam nun wirklich nicht in Frage.

Auf einer solchen Party – einer Release-Party für ein Rap-Album, wie sie nun erfahren hatte – wurden ja dann wohl auch Fotos und Videos von den Fans gemacht. Vielleicht wäre auch Presse anwesend. Rasend schnell würden sich die Bilder im Internet verbreiten. Wenn sie sich vorstellte, ihre Familie in Osteuropa würde sie, warum auch immer, so im Internet entdecken, lief es ihr kalt den Rücken runter.
Beim Gedanken an ihre Heimat musste Irina schwer schlucken. Abgesehen von einem kurzen, wöchentlichen Telefonat hatte sie derzeit überhaupt keinen Kontakt zu ihren Verwandten. Keiner hatte auch nur die leiseste Ahnung, was sie in Deutschland machte.

„Keine Sorge, Mama. Alles wird gut. Es ist doch nicht für immer", hatte sie vor rund einem halben Jahr am Flughafen zu ihrer schluchzenden Mutter gesagt.
Wenige Wochen zuvor war Svenja, eine Freundin von Irina, nach Deutschland aufgebrochen, um Geld zu verdienen. Für den Lohn, den man dort angeblich für eine einzige Stunde bekam, musste man in ihrer Heimat locker eine Woche lang durcharbeiten.

Irina hatte so sehr darauf gehofft, dass Svenja sie anrufen würde, um ihr mitzuteilen, dass ihr Plan aufgegangen war. Sollte dies so sein, so hatte sie sich vorgenommen, würde sie es Svenja auf jeden Fall gleichtun.
Sie musste dringend etwas für ihre Familie machen. Ihre Mutter war schwer krank und die Behandlungskosten fraßen den Großteil des Geldes auf, was der Familie zur Verfügung stand. Ihr Vater war ein Alkoholiker, bei dem man schon lange die Hoffnung aufgegeben hatte. Er hatte sich mittlerweile so krank gesoffen, dass er finanziell, sowie menschlich keinerlei Unterstützung mehr sein konnte, wenngleich er doch irgendwo ein herzensguter Mann war, der sich bloß nie der Schwärze, die ihn stets umgab, hatte entziehen können. Dann gab es da noch Irinas vier kleine Geschwister, für die am Ende kaum noch etwas übrig blieb.
Irina selbst hatte mit vierzehn die Schule abgebrochen, weil es einfach nicht mehr machbar gewesen ist. Die Unterstützung, die man in in ihrem Heimatland erhielt, war einfach nur ein Witz und es musste dringend jemand Geld verdienen. Ihre Eltern waren zu krank, ihre Geschwister zu klein – also blieb ja nur noch sie, die das übernehmen konnte.
Darum hatte sie die letzten fünf Jahre oft vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein in einer Schuhfabrik um die Ecke gearbeitet. Was sie dort verdiente, reichte bei Weitem nicht. Sie hätte zwar noch Nachtschichten schieben können, aber das hätte sie rein körperlich schon gar nicht mehr geschafft. Nach diesen fünf Jahren fühlte sie sich wie fünfzig, obwohl sie gerade einmal neunzehn war.

Wenige Tage nach Svenjas Ankunft in Deutschland hatte diese tatsächlich total euphorisch bei Irina angerufen und gemeint, sie solle unbedingt ebenfalls aufbrechen. Sie habe bereits am zweiten Tag Arbeit im Haushalt einer reichen deutschen Familie gefunden, wo man sie nicht nach Papieren oder einer Steuernummer gefragt hatte.
Vollkommen fasziniert hatte sich Irina Svenjas Erzählungen angehört. Die bekam den Eindruck, Deutschland sei ein Land, in dem alles möglich sei. Ein Land, in dem alles so viel einfacher ist, als in ihrer Heimat.
Sie hatte beschlossen, sich noch in der gleichen Woche einen Flug nach Deutschland zu buchen, auch wenn das ein großes Loch in die nur dürftig gefüllte Familienkasse riss. Aber das war es wert, fand sie. Sie würde in nur einem Monat mehr verdienen, als in einem ganzen Jahr in der Schuhfabrik. Da würde locker jede Menge übrig bleiben, was sie ihrer Familie zukommen lassen könnte.
So, wie Svenja von diesem Land erzählte, konnte man denken, das Geld würde auf der Straße liegen und man müsste sich nur danach bücken. Auf welche Weise sie sich dann tatsächlich für Geld würde bücken müssen, konnte sie da ja noch nicht wissen.


Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt