Die Dankbarkeit

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Nach dieser aufwühlenden Begegnung fuhr Benni auf direktem Wege wieder nach Hause. Eigentlich hatte er an diesem Tag wirklich noch etwas mit Lukas besprechen wollen, so wie er es Eva zunächst gesagt hatte, aber dem hatte er sofort, als er aus dem Bordell rausgegangen war, abgesagt.
Benni wollte heute niemanden mehr sehen oder hören, was sich als sehr schwierig herausstellen könnte, sollte Eva noch zuhause sein. Allerdings standen die Chancen, dass sie unterwegs war, gar nicht mal so schlecht. Seit Tagen schon war sie kaum noch in ihrer gemeinsamen Wohnung, sondern traf sich immer mit irgendwelchen angeblichen Freundinnen, deren Namen Benni noch nie gehört hatte.
Aber irgendwie war ihm das im Moment auch gleichgültig. Er hatte so sehr mit seinem schlechten Gewissen wegen Irina zu kämpfen gehabt, dass für andere Dinge in seinem Kopf seit Tagen schon kein Raum mehr gewesen war.
Jetzt, wo er sich entschuldigt hatte, hatte er die Hoffnung, dass sich das nun wieder ändern würde. Er hatte das Gefühl, dass ihr das Gespräch auf irgendeine Art und Weise gut getan hat und er hatte ihr mitgeteilt, dass ihm sein Verhalten leid tat. Damit hatte er doch seine Schuldigkeit getan, fand er und er könnte nun wieder zum Alltäglichen übergehen.

Doch das war natürlich nicht ganz so einfach, wie erhofft.
Eva war tatsächlich den ganzen restlichen Tag über nicht in die Wohnung gekommen und auch jetzt, wo Benni am späten Abend schon in seinem überdimensionalen Wasserbett lag, hatte er sie weder gesehen, noch gehört. Er konnte einfach keinen Schlaf finden, egal wie lange er sich in seinem Bett herum rollte. Sogar einen von Evas Kräutertees, die angeblich für einen guten Schlaf sorgten, wie sie immer sagte, hatte er sich gekocht. Doch außer einem widerlichen Nachgeschmack in seinem Mund bemerkte er nichts.
Er musste durchgehend an die Geschichte, die Irina ihm erzählt hatte, denken. Wobei Geschichte das falsche Wort war. Es war die knallharte Realität, die sie Tag für Tag durchmachen musste.

Bisher hatte Benni das Schlechte in der Welt immer ganz gut verdrängen können, weil es ihn eben nie direkt betraf, wenn er mal von einer Ausnahme absah, an die er auch bis heute nie denken wollte, weil es ihn zu sehr schmerzte.
Denn so geht es den meisten Menschen eben, wenn sie in den Nachrichten von Morden, Entführungen, dem Welthunger oder Amokläufen hören. Man hört es im Radio oder sieht es im Fernsehen, schnappt kurz nach Luft oder ist vielleicht sogar ein paar Tage lang schockiert darüber, doch dann vergisst man es eben wieder, weil schon die nächste Schreckensmeldung durch die Kanäle gespült wird.
Doch auch diese, sowie alle weiteren verschwinden bald schon in einem Strudel aus Vergessen und Verdrängen.
Wer erinnert sich heute noch an einen bestimmten Mord, der vor vielleicht drei Jahren passiert war? Wer hat noch die Namen der Opfer im Kopf? Sofern kein monatelanges Medienspektakel daraus gemacht wurde, wohl die wenigsten.
Wenn in der Fernsehwerbung ein Spendenaufruf einer Organisation, die sich um den Hunger in der dritten Welt kümmert, läuft... wie viele kommen auf dem Weg zum eigenen Kühlschrank auf die Idee, ein paar Euro zu spenden? Benni bisher jedenfalls nicht.

Das Schicksal von Irina konnte er jetzt allerdings nicht so einfach wieder von sich schieben. Es war eben nicht nur etwas, was er am Rande mitbekommen hatte. Das Schicksal von Irina war real. Viel zu nah war er dran gewesen.
Er hatte auf dem Stuhl gesessen, auf dem sich normalerweise Freier von ihr fesseln ließen, oder auf dem sie von ihnen gefesselt wurde.
Seine Füße hatten den dunkelroten Teppichboden berührt, dort wo die nackten Füße eines schmierigen Kerls auf dem Weg zum Bett entlanggegangen waren.
Er hatte die gleiche Luft geatmet, die wenige Stunden zuvor stoßweise aus den Lungen eines abspritzenden Kerls gekommen war, während dieser auf Irina gelegen hatte.
Er hatte ihr gegenüber gesessen, hatte in die Augen gesehen, die in gerade einmal neunzehn Jahren so viel Leid hatten sehen müssen.
Er hatte, als sie die Tür öffnen wollte, um die Schildkröte hereinzulassen, nach ihrer Hand gegriffen, die schon so viel unaussprechliches hatte anfassen müssen. Sogar sein eigener nackter Schwanz hatte sich schon in dieser Hand befunden und dafür schämte er sich abgrundtief.

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt