Die Veränderung

244 29 21
                                    

Ein paar Wochen nachdem Benni sie erneut im Bordell besucht hatte, lief Irina durch das verschneite Berlin.
Es war bereits Anfang Dezember und die Zeit raste unaufhaltsam auf Weihnachten zu. Die Straßen waren schon weihnachtlich geschmückt und die ersten Weihnachtsmärkte hatten ihre Stände geöffnet. An einem dieser Stände machte Irina an diesem Nachmittag halt und gönnte sich einen Crêpes mit Nutella.
Das Gespräch mit Benni hatte etwas in ihr wachgerüttelt. Nämlich das Bewusstsein, sich besser um sich selbst kümmern zu müssen. Natürlich war sich Irina schon von Anfang an darüber bewusst gewesen, dass sie so einiges für ihre Familie auf sich nahm. Doch erst als sie das, was sie da Tag für Tag tat, bei Benni laut und detailliert ausgesprochen hatte, war ihr zum ersten Mal so richtig bewusst geworden, was ihr Aufenthalt in Deutschland tatsächlich für sie bedeutete – die nahezu komplette Selbstaufgabe, die so nicht weiter bestehen bleiben durfte.

Ihre Familie war ihr unendlich dankbar für das Geld, das Irina Monat für Monat in die Heimat schickte. Doch ihre Angehörigen wollten bestimmt nicht, dass sie eines Tages deswegen völlig kaputt dorthin zurückkehrte.
Offiziell putzte Irina nämlich in einem wohlhabenden Haushalt und Zuhause hatte man keine Ahnung, mit welcher Arbeit Irina dieses rettende Geld tatsächlich verdiente. Spätestens, wenn sie irgendwann wieder in das Flugzeug zurück nach Rumänien steigen würde, würde man ihr aber ansehen, dass sie keine Putzstelle gehabt hatte.
Die wenigsten Huren, die bei ihr im Bordell arbeiteten, sahen noch ihrem Alter entsprechend aus. Bereits nach kürzester Zeit in diesem harten Geschäft schienen sie im Zeitraffer zu altern. Die Sorgenfalten waren tiefer, als sie sein sollten, und aus den Blicken war schon längst dieses jugendliche Strahlen verschwunden, das in so jungen Jahren dort zu sehen sein sollte.

Im Moment sah Irina zwar noch keine Alternative zu der Arbeit im Bordell, weil sie eben die lukrativste war, die sie in ihrer Position bekommen konnte, aber dennoch wollte sie nicht, dass die Spuren, die die Arbeit an den Frauen hinterließ, bei ihr selbst zu tief wurden.

Darum hatte Irina sich vorgenommen, einmal am Tag etwas nur für sich selbst zu tun, und wenn es nur ein etwas teurerer Kaffee beim Bäcker nebenan war. Natürlich war so etwas nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und machte ihre Arbeit nicht weniger schlimm, doch aus diesen mickrigen Oasen in ihrem tristen Alltag schöpfte sie eine Energie, die sie das alles ein kleines bisschen besser ertragen ließ. Das, und die Gewissheit, dass sie nicht bis ans Ende ihrer Tage diesen Job machen würde, setzte ein wenig Hoffnung in ihr frei.

Maximal zwei Jahre wollte sie noch hier bleiben. Auch, wenn sie bis dahin höchstwahrscheinlich nicht genug Geld verdient hätte, um ihre Familie bis an den Rest ihrer aller Leben durchbringen zu können, wollte sie dann mit dem Job Schluss machen.
Fast drei Jahre lang Anschaffen wäre dann doch lange genug und sie war der Meinung, dass sie mehr wirklich nicht tun konnte, ohne sich selbst zu sehr kaputt zu machen. Ohnehin war der Einsatz, den sie bis zum heutigen Tage bereits erbracht hatte, schon viel mehr, als die meisten anderen jemals auf sich nehmen würden.

Irina hatte nicht den blassesten Schimmer, in welchem Teil Berlins sie sich hier gerade befand. Sie war stundenlang durch den Schnee gelaufen, war einfach abgebogen, ohne sich groß Gedanken über die Richtung oder gar ein Ziel zu machen. Heute hatte sie überhaupt keinen Plan gemacht, sondern sich einfach nach Draußen gestürzt, um einmal etwas anderes zu erleben. Etwas, das sich von ihrem gewohnten Tagesablauf deutlich unterschied.
Sie hatte heute einmal mehr von Berlin sehen wollen, als die schmucklose Hauswand, die sie von ihrem Zimmer aus auf der anderen Straßenseite betrachten konnte.
Sie hatte heute einmal mehr von Berlin hören wollen, als heiseres Gestöhne auf Berliner Dialekt, wenn sie einen Kunden hatte.
Und sie hatte heute einmal mehr von Berlin schmecken wollen, als... nun ja.
Darum hatte sie sich heute tatsächlich einmal einen ganzen Tag frei genommen. Zum ersten Mal, seit sie damals das Bordell betreten hatte, verging ein kompletter Tag, an dem sie keinen einzigen Kunden in Empfang nahm.
Und es fühlte sich gut an. Richtig gut.

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt