Die Faszination

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Irina schluckte schwer, als sie die gesalzenen Preise in der Speisekarte sah. Für dieses Geld, was hier für ein kleines Stück Fleisch verlangt wurde, konnte sie in ihrer Heimat fast zwei Wochen leben, wenn man das Geld gut investierte. Und jetzt hatte sie vor, das an einem einzigen Abend für ein einziges Essen auszugeben.
Es fühlte sich falsch an. Aber auf der anderen Seite war es auch das richtigste, was sie mit diesem Geld anfangen konnte. Wie sie schon vorher an diesem Tage für sich beschlossen hatte, wollte sie nicht mit diesem Geld, welches sie halbnackt vom Boden aufheben musste, ihre Familie Zuhause ernähren.

Sie hätte die hundert Euro selbstverständlich auch in ein neues Outfit für ihren Job anlegen können. Sie hatte so einige Stammkunden, die ihre Dienste immer wieder in Anspruch nahmen. Einige von ihnen waren jetzt schon so häufig bei ihr gewesen, dass sie bereits jedes Höschen und jedes Kleidchen, was in ihrem Schrank hing, schon gesehen hatten. Manche von diesen Kunden hatten sich enttäuscht darüber gezeigt, denn immer das Gleiche hatten sie auch Zuhause bei ihren Frauen. Wenn sie ihr hart verdientes Geld bei ihr im Bordell ließen, dann erwarteten sie dafür selbstredend jedes Mal etwas aufregendes Neues.
Das Geld von Benni wollte sie jedoch auch hierfür nicht ausgeben. Sich von schmutzigem Geld schmutzige Klamotten für ihren schmutzigen Job zu kaufen, das war dann doch etwas zu viel Schmutz auf einmal.
Am liebsten wäre sie ihm vorhin nachgerannt und hätte ihm den Schein ebenfalls vor die Füße geworfen. Doch dazu war sie viel zu perplex gewesen und daher war es nun das Beste, das Geld sinnlos zu verprassen.

Wobei Irina das dann beim Blick durch das Restaurant gar nicht mal so sinnlos vorkam. Als sie sich zum vierten Mal in dem großen, elegant eingerichteten Raum umsah, wurde ihr klar, dass das hier das schönste war, was sie seit Langem für sich selbst getan hatte. Sie war sich jetzt nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt jemals etwas so schönes ausschließlich für sich getan hatte.

Schon seit sie ein Kind gewesen war, dachte sie immer nur an andere.
Auch, wenn sie mitten im Winter mit löcherigen Schuhen durch den Schnee zur Schule lief, hatte sie keine neuen Schuhe verlangt, wenn sie die knurrenden Bäuche ihrer Geschwister hörte.
Auch, wenn sie mitten im Sommer fast am verdursten war, kaufte sie unterwegs nicht die Flasche Wasser für ein paar Cent, wenn Zuhause bereits bezahltes Wasser stand.
Alles nur, damit sie ihrer Familie so wenig zur Last fiel, wie es nur möglich war.

Wenn sie sich in ihrer Heimat sehr selten einmal etwas zu Essen außerhalb gegönnt hatte, war sie dazu immer zum Imbiss neben der Schuhfabrik, in der sie geackert hatte, gegangen. Der Imbiss bestand aus einem alten, umgebauten Wohnwagen, der schon überall verrostet war. Davor standen billige, mit Brandlöchern übersäte Stehtische unter einem ramponierten Pavillon.
Auch, wenn es optisch nicht den Anschein machte, kochte Vadim, der Besitzer von diesem Imbiss, die besten Krautnudeln im ganzen Ort.

Diese Besuche bei Vadim waren immer ein Highlight gewesen, und alleine die Erinnerung an den Geschmack der Krautnudeln zauberte Irina oft noch Tage später ein Lächeln ins Gesicht.
Natürlich gab es auch in ihrem Herkunftsland Restaurants wie dieses hier in Berlin. Aber Mädchen wie sie sahen diese Läden gewöhnlich niemals von innen.
Jetzt saß sie hier mitten in Deutschland in einem richtigen Restaurant. Die Tische glänzten so schön, dass man sich schon fast im polierten, dunklen Holz spiegeln konnte. Die Tischdecken waren fein gewebt und üppig verziert und sie passten farblich exakt zu den bezaubernden Blumen, die an den Wänden in Blumenampeln herabhingen. Gedimmtes Licht von der Decke, sowie der Schein der dünnen, eleganten Kerzen tauchten den ganzen Raum in romantisches Licht. In diesem Restaurant konnte man sich einfach nur rundum wohlfühlen.

Als der Kellner kam, entschied Irina sich für ein Steak, das sage und schreibe mit vierzig Euro zu Buche schlug. Es war wahrscheinlich das erste und einzige Mal in ihrem Leben, dass sie einen solch dekadenten Preis für ein Stückchen Fleisch bezahlen konnte, darum wollte sie das jetzt auch ausnutzen.
Wenn Vadims Krautnudeln sie schon tagelang glücklich machen konnten, würde ihr dieses Fleisch hier wahrscheinlich noch über Wochen hinweg angenehme Erinnerungen bescheren.

Völlig überwältigt von den optischen Eindrücken, gepaart mit dem atemberaubend leckeren Geruch, den das Essen der anderen Gäste im Raum verströmte, sah sie sich weiter um. Sie hatte schon Angst gehabt, dass sie vielleicht mit ihrem einfachen, schwarzen Kleid nicht hier rein passte, aber sie unterschied sich nicht sonderlich von den anderen Menschen, die hier paarweise oder in kleinen Gruppen an den Tischen saßen.

Irina stockte der Atem, als ihr Blick an einem der anderen Tische hängen blieb. Auch Valerie sah ihr den Schock direkt an.
„Irina? Ist alles okay mit dir?"
Irina konnte nicht antworten, so sehr hatte sie das erschreckt, was sie gerade entdeckt hatte. Valerie drehte sich um und ihr Blick kreuzte sich mit einem Typen, der direkt in die Richtung der beiden starrte.
„Warum starrt uns dieser Schnösel da hinten so an?", fragte sie, als sie ihren Blick wieder auf Irina richtete. „Wer ist das?"
Irina beugte sich mit flauem Magen ein Stück über den Tisch. „Das ist der Grund, wegen dem wir heute hier sind."

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt