Der Überfluss

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Berlin, im Dezember 2013

Benni war schlecht. Völlig überfressen hing er später am Abend auf der Couch und konnte sich keinen Zentimeter mehr bewegen ohne das Gefühl zu haben, er müsse sich jeden Moment auf den teuren Perserteppich seiner Eltern übergeben.
Er hatte es eindeutig übertrieben. Er war zwar kein Kind von Traurigkeit, wenn es ums Essen ging und nicht selten wurde es anderen Leuten schwindelig, wenn sie ihm nur dabei zusahen, aber irgendwo hatte auch er seine Grenze.
Eva wollte immer alles schön und gesittet und maßvoll haben, wenn es ums Essen ging. Wenn sie einmal im Schaltjahr etwas kochte, dann richtete sie das auf riesigen Tellern an, wobei man dann das, was darauf lag, fast mit der Lupe suchen musste.
Wenn Benni sich mal mit einem Megadöner auf die Couch pflanzte, dann wurde ihr alleine schon vom Zusehen schlecht. Manchmal ließ er dann auch absichtlich was davon auf die Couch fallen, und das einzige Ziel hierbei war, Eva so richtig auf die Nerven zu gehen.

Und wenn Benni es so richtig übertreiben wollte, dann musste er es tun, wenn sie unter anderen Menschen waren. Dann lief Eva nämlich knallrot an und schämte sich für ihn fremd. Sie sagte dann immer, sie sei mit einem Mann zusammen, nicht mit einem verfressenen Stallvieh.
Genau aus diesem Grund hatte Benni sich heute am Heiligabend so richtig den Riss gegeben.
Eigentlich fand er es lächerlich, wie sie immer darauf achtete, was und wie er aß. Es ging sie doch überhaupt nichts an. Aber wenn er sie damit aufregen konnte, dann sollte es eben so sein.

„Hättest halt nicht so viel fressen sollen", zischte sie ihm zu, als sie sich nach vorne beugte, um ihr halbleeres Weinglas vom Couchtisch zu nehmen.
„Ist doch meine Sache, oder nicht?", fragte er und konnte sich dabei gerade so zurückhalten, um nicht aufzustoßen.
„Du kotzt ja gleich. Das ist so ekelhaft", murmelte sie pikiert in ihr beiges Halstuch hinein.

Bennis Mutter trat aus der Küche und trug stolz eine vierstöckige Etagere vor sich her, die mit allen möglichen Desserts bestückt worden war.
„Wenn du auch nur ein Teil davon isst, ich schwöre dir...", flüsterte Eva ihm zu, als die süßen Köstlichkeiten direkt vor Bennis Nase abgestellt wurden.
„Dann?", fragte er und beugte sich ein Stück nach vorne, um die Angelegenheit genauer in Augenschein nehmen zu können. Vielleicht war er ja doch noch nicht so satt, dachte er sich, als er von einem anerkennenden Nicken begleitet mit seinen Augen an einem kleinen Gläschen Mousse au Chocolat hängen blieb.
„Ach, mach doch was du willst", keifte sie und griff nach einer Miniaturportion Obstsalat.
Benni ließ sich das nicht zweimal sagen und reihte gleich mehrere Schälchen vor sich auf.
„Lass doch den Jungen essen, wenn es ihm schmeckt", tadelte seine Mutter.
Eva schluckte schwer und die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, runter.

Benni konnte nach dem dritten Löffel wieder einmal nur den Kopf über sich selbst schütteln. Acht Kilo hatte er in den letzten Wochen zugenommen. Und das vermutlich nur, weil er Eva ärgern wollte. Er schnaufte ein bisschen lauter, wenn er mal die Treppen ging und auch die ersten Anzüge fingen an zu kneifen.
Statt ein einziges Mal wirklich das auszusprechen, was ihm auf der Seele brannte, schadete er sich selbst und das mit einer überaus kindischen Vorgehensweise. Er legte den Löffel auf den Tisch und schob die restlichen Schälchen wieder auf die Etagere. Damit musste Schluss sein. Als ob Eva sich von ihm trennen würde, nur weil er zu viel aß. Was hatte er sich dabei bloß gedacht? Da würde er wohl größere Geschütze auffahren müssen.

Magda, die die ganze Zeit über in der Ecke gestanden und die Familie stumm beobachtet hatte, schritt direkt zur Tat und nahm Bennis schmutziges Geschirr entgegen. Er bemerkte den brennenden Blick von Eva und starrte Magda unverhohlen in den Ausschnitt.
Eva atmete etwas geräuschvoller aus und er war sich sicher, dass sie das gerade gesehen hatte.

Eigentlich waren ihm diese Spielchen viel zu anstrengend, aber irgendwie musste er es doch schaffen, dass er alleine von dieser traurigen Veranstaltung hier verschwinden konnte. Er hatte schließlich noch etwas vor, auf das er sich den ganzen Tag über schon gefreut hatte.

Benni warf einen Blick auf seine Rolex und seufzte. Es war noch nicht einmal einundzwanzig Uhr durch und erfahrungsgemäß würde der Abend noch lange nicht vorbei sein. Alle um ihn herum unterhielten sich prächtig. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und sah sich all seine Verwandten an, die sich zur Feier des Tages wieder einmal in ihre teuersten Kostüme geschmissen hatten. Pelz und Samt und Gold, wohin man auch sah.

Seine Augen wanderten weiter, zu den Bergen an Geschenken, die überall im Wohnzimmer, das von der Größe her fast einem Ballsaal glich, verteilt waren. Sein Vater hatte die dreißigste Krawatte bekommen, die er gar nicht brauchte. Seine Mutter war nun im Besitz ihres geschätzt hundertsten Armbands und er selbst konnte heute wieder eine neue Rolex sein eigen nennen.

Vielleicht sollte er einfach aufstehen und gehen. Dies erschien ihm plötzlich als die einzig richtige Lösung. Sich jetzt einfach von der Couch erheben, und all die kostümierten, konsumsüchtigen Personen dort lassen, wo sie waren. Das wäre doch mal was!

Benni kämpfte sich vom Sofa hoch und griff nach seinem Handy, das vor ihm gelegen hatte. Zuerst dachte er daran, einfach vorzugeben, einen Termin zu haben. Doch was für ein Termin sollte das an Heiligabend schon sein?
„Was wird denn das jetzt?", fragte Eva und sah ihn schief von der Seite an.
„Ich geh pissen", war seine elegante Antwort.

Im Badezimmer ließ er sich erschöpft auf dem Wannenrand nieder und starrte auf den schwarzen Bildschirm seines Handys. Ohne groß nachzudenken, wählte er die Nummer vom Bordell und lauschte mit schneller klopfendem Herzen dem monotonen Tuten.
Er wollte später unbedingt noch zu Irina gehen, doch dann war ihm eingefallen, dass das Bordell an Heiligabend vermutlich bis zum Bersten gefüllt sein würde, und es somit überhaupt nicht sicher war, ob sie überhaupt Zeit für ihn hatte.

Schon nach wenigen Sekunden wurde abgenommen und eine samtig klingende Stimme drang an sein Ohr. „Haus vierundvierzig, Stella am Apparat..."
„Äh... ja", stammelte Benni.
„Na, wie kann ich dir weiterhelfen, mein Süßer?"
Benni bemerkte, wie sein Kopf die Farbe einer überreifen Tomate annahm und fragte sich, was zur Hölle er da gerade trieb.
„Ist Irina da?", fragte er. „Die aus Rumänien", setzte er nach, als ihm einfiel dass es ja mehrere Irinas dort gab.
„Wer will das wissen?", flötete Stella zuckersüß in den Hörer.
„Benni", flüsterte dieser fast.

„Und was will Benni von Irina?", wurde er gefragt und anhand dessen, wie diese Stella seinen Namen aussprach nahm er an, dass sie ihm nicht glaubte, dass er wirklich so hieß.
Wie erbärmlich war er denn bitte auch gerade?
Da saß er während einer Familienfeier am heiligen Abend versteckt im Bad und telefonierte mit einer Hure.
„Ich wollte fragen, ob sie heute Abend noch Zeit hat."
Stella lachte. „Wer zuerst kommt, kommt zuerst", meinte sie.
Benni schlug sich die Hand geräuschvoll vor die Stirn, fast schon empört über diese Anspielung. „Ich will sie heute Abend buchen, okay? Von mir aus zahle ich auch das Doppelte."
„So, so", sagte Stella und er konnte sich richtig ihr breites Grinsen auf der anderen Seite der Leitung vorstellen. „Ich kläre das mal eben mit Ronny. Bleib dran, mein Süßer."

Der Hörer wurde auf die Seite gelegt und Benni konnte im Hintergrund Weihnachtsmusik dudeln hören. Er lehnte sich zur Seite an die kalten Fliesen und lachte sich selbst aus. Seltsame Wege waren das, die sein Leben zur Zeit nahm. Sehr seltsame Wege.


Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt