Der Fall

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Berlin, im Dezember 2013

Als Benni und Irina sich nach dieser Nacht auf dem Parkplatz des Luxushotels wiederfanden, dämmerte bereits ein grauer Morgen eines trüben Winters in Berlin. Schwere, dunkle Wolken hingen tief am Horizont und es war so bitterlich kalt, dass selbst der dickste Mantel nichts mehr gegen die eisige Kälte ausrichten konnte.

Nachdem Benni Irina in der Nacht die Violine geschenkt hatte, hatte sie sofort zu spielen begonnen und erst zwei Stunden später wieder aufgehört. Währenddessen hatte Benni es sich auf dem weichen Sofa bequem gemacht und ihr zugehört. Manchmal hatte der die Augen geschlossen und sich nur auf die Melodien konzentriert, meistens hatte er sie jedoch dabei angesehen. Während er sie betrachtete, hatte er sich die Geschichte, wie Irina zum Geige spielen gekommen war, wieder ins Gedächtnis gerufen und dabei heimlich die ein oder andere Träne verdrückt.

Nun war der Zauber dieser Nacht mit dem Eisregen, der nun vom Himmel fiel, weggewischt worden.
Benni fühlte sich mehr als unwohl. Zum einen, weil er Irina jetzt wieder am Bordell absetzen würde, was ihm das Herz zerriss, wenn er sich nur vorzustellen versuchte, was heute dort auf sie wartete und zum anderen, weil er sich genau vorstellen konnte, was später auf ihn wartete, sobald er aus dem Aufzug zu seiner Wohnung gestiegen war.
Eva regte ihn jetzt schon auf, dabei war er noch rund zwanzig Kilometer von ihr entfernt und hatte an diesem Tag noch keinerlei Kontakt mit ihr gehabt.
Benni und Irina setzten sich ins Auto und während er darauf wartete, dass sich das Innere des Wagens aufheizte und die Scheiben frei wurden vom dicken Eis, das sich darauf gebildet hatte, nahm er sein Handy aus dem Handschuhfach und schaltete es an.
Sofort strömte eine Flut an Benachrichtigungen auf ihn ein, die in ihm den Wunsch weckte, das Handy jetzt sofort aus dem Autofenster zu werfen und mehrmals drüber zu fahren, bis nur noch Pulver davon übrig sein würde. Aber das tat er natürlich nicht.
Mit einem lauten Seufzen überflog er die Nachrichten von Eva, die abwechselnd mal aus Liebe und Hass, dann mal aus Wut und verzweifeltem Flehen bestanden. Er warf das Smartphone ohne ihr zu antworten in die Mittelkonsole.

Irina saß währenddessen auf dem Beifahrersitz und genoss die Wärme der Sitzheizung, die sich langsam und angenehm unter ihr ausbreitete. Die Geige, die sie von Benni geschenkt bekommen hatte, lag in dem Karton auf ihrem Schoß und sie ließ noch ein letztes Mal ihren Blick über das riesige Hotel schweifen, ehe die beiden vom Parkplatz rollten.
Sie hatte Mitleid mit Benni. Auch, wenn er selbst der Meinung war, dass seine Probleme gegenüber den ihren total nichtig waren, fand sie, dass er trotzdem genau das gleiche Recht zu leiden hatte, wie sie. Und es war eindeutig zu erkennen, wie sehr er gerade litt.
Bereits in der Nacht hatte er ihr mehrmals gesagt, wie schlimm er es fand, sie am Morgen ins Bordell zurückfahren zu müssen. Irina vermutete, dass es noch einen anderen Grund für sein Leiden gab und sie kam schnell darauf, dass es was mit Bennis Freundin zu tun haben musste.
Am Rande hatte sie schon herausgehört, dass er mit der Beziehung sehr unglücklich war, aber keinen Weg da raus fand. Sie verstand nicht so wirklich, was Benni noch immer bei Eva hielt.
Es war ja nicht so, dass er finanziell von ihr abhängig war und ohne sie nicht klarkommen würde. Und so wie er sich über sie äußerte, schien es von außen betrachtet auch nicht die große Liebe zu sein.

Irina dachte noch eine Weile darüber nach, während Bennis Audi sich langsam und mühselig durch die dicke Schneedecke, die sich über die Straße gelegt hatte, kämpfte. Doch bald gab sie auch schon auf. Was Benni und seine Freundin noch verband, war ein Rätsel für sie und vielleicht lag das auch wirklich daran, dass sich ihr Leben so stark von seinem unterschied.
Wenn sie an ihre Familie und ihre Bekannten in der Heimat dachte, dann fiel ihr auf Anhieb niemand ein, der sich besonders stark mit Beziehungsproblemen beschäftigte. Klar gab es auch dort die ein oder andere Meinungsverschiedenheit, doch dann traten immer wieder andere Schwierigkeiten auf und man musste sich zusammenreißen, weil man aufeinander angewiesen war.

Für die Fahrt in die Innenstadt brauchte Benni sehr viel länger als es für die Strecke normal gewesen wäre. Der Eisregen hatte sich in starken Schneefall gewandelt, er wurde immer stärker und man konnte teilweise nur wenige Meter weit sehen, sodass er gezwungen war, im Schritttempo zu fahren. Die Straße war spiegelglatt. Das Hotel war etwas abgelegen und er musste daher erst durch ein kurzes Waldstück fahren, um auf die nächste Schnellstraße zu gelangen.
Normalerweise würde er sich darüber tierisch aufregen und vor Wut wegen dieser Zeitverschwendung auf das Lenkrad einprügeln, doch jetzt blieb er ganz ruhig. Je länger der Weg dauern würde, desto später würde er Zuhause bei Eva ankommen.
Als ihm auffiel, was für ein Waschlappen er war, musste er kurz über sich selbst grinsen, auch wenn es nicht wirklich etwas zu lachen gab. Selbst wenn er Irina am Bordell abgesetzt haben würde, dann zwang ihn doch niemand, direkt zu Eva zu fahren. Wenn er wollte, könnte er auch erst in einem Monat oder in einem Jahr wieder in seine Wohnung zurückkehren. Warum also machte er sich jetzt schon den ganzen Morgen verrückt, weil er Eva bald gegenüber treten würde? Eigentlich war das schon ziemlich lächerlich. Was sollte sie denn schon groß tun, außer wieder eine Vase nach ihm zu schmeißen?

Benni warf einen Seitenblick auf Irina, die mit geschlossenen Augen entspannt im Sitz lehnte und den Karton auf ihrem Schoß fest in den Händen hielt.
Ihr beim Geige spielen zuzusehen war einfach ein überwältigendes Erlebnis für Benni gewesen und er hoffte sehr, dass er irgendwann noch einmal in diesen Genuss kommen würde.

Auch, wenn Benni es noch so sehr gehofft hatte, nahm die Fahrt bald ein Ende und er parkte seinen Wagen vor Ronnys Bordell.
Er hatte überlegt, ob er Irina Geld geben sollte, damit sie noch ein paar Tage in einem Hotel unterkommen könnte. Doch dann hatte er sich ziemlich schnell dagegen entschieden. Sie würde es ohnehin nicht annehmen wollen. Es hatte sie schon genug Überwindung gekostet, die Violine zu behalten und sie musste ja außerdem auch wieder Geld verdienen, wenn sie seines nicht annehmen wollte.

„Danke für die Nacht", sagte Irina lächelnd und griff nach der Türklinke. „Ich weiß gar nicht genau, was ich sagen soll. Ich bin immer noch total platt."
„Schon okay", antwortete Benni. „Geht mir genau so."
Seufzend warf er einen Blick auf das Gebäude gegenüber. „Und du willst da jetzt echt wieder rein?"
„Na, was bleibt mir denn sonst übrig?"
„Keine Ahnung."
„Siehst du."

Benni stieg zusammen mit ihr aus und umarmte sie fest. „Pass auf dich auf, okay?"
„Immer doch", murmelte sie gegen seine Brust.
„Irina...fändest du es komisch, wenn wir... also wenn wir uns nochmal sehen... irgendwann?"
„Nein, überhaupt nicht", antwortete sie.
Da er merkte, dass er jeden Moment wieder weich werden würde und sich erste Tränen in seinem Augenwinkel sammelten, löste er die Umarmung. „Na dann, wir sehen uns."

Erst, als Irina durch die Tür verschwunden war und Benni wieder in seinem Auto saß, überkam es ihn und er vergoss schon wieder Tränen. Wie lange er da saß, konnte er gar nicht sagen. Immer wieder sah er auf den leeren Beifahrersitz und sein Herz tat ihm so weh wie noch nie in seinem Leben.
Er verstand noch nicht einmal genau, warum das so war. Irina war ein liebes Mädchen, das stand außer Frage. Aber trotzdem kannte er sie kaum und er konnte sich nicht erklären, warum ihm das alles so nah ging und warum er sich so sehr für sie einsetzte.

Ein anderer Wagen fuhr neben seinem in die Parklücke und Benni wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht, bevor er einen Blick rüber warf und einem hässlichen Typen dabei zusah, wie er seinen massigen Körper aus dem Auto wuchtete.
Benni startete den Wagen, verließ den Parkplatz und fuhr so schnell weg, wie er nur konnte.

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt