Berlin, im Dezember 2013
Wie man es sich fast schon hätte denken können, hatte Benni es an dem Tag, an dem er die Geschenke von der Post abgeholt hatte, natürlich nicht geschafft, Eva zu verlassen.
Noch zwei Tage später, als er an Heiligabend im Kreise der Familie unter dem Tannenbaum saß, ärgerte ihn das maßlos.Er hatte es wirklich vorgehabt.
Er hatte es sich richtig fest in den Kopf gesetzt und hatte sie an diesem Tag wirklich verlassen wollen.
Voller Enthusiasmus war er mit dem Fahrstuhl in seine Dachgeschosswohnung gerast. Er war so entschlossen gewesen das durchzuziehen, dass er das Gefühl hatte, dass sogar der Aufzug an diesem Tag ein wenig schneller gefahren war, als sonst.
Doch sobald er die Wohnung betreten hatte und um die Ecke ins Wohnzimmer gebogen war, zerbrach sein ach so fester Entschluss auch schon wieder in tausende kleine Scherben. Eva hatte blass auf der Couch gelegen, vor ihr ein Putzeimer, und das ganze Zimmer roch nach Erbrochenem.
Gerade, als Benni einen Schritt auf sie zugegangen war, erbrach sie sich unter Tränen und wimmerte im Anschluss vor Schmerzen.
„Ich bin krank", hatte sie gesagt. „Es kam ganz plötzlich. Ich glaube, ich sterbe."
Benni hatte sich neben sie gesetzt, hatte ihr die Haare aus der verschwitzten Stirn gestrichen und ihr seufzend versprochen, dass alles wieder gut wird. Nur für wen, das war die Frage. Für ihn? Sicher nicht.„Alles gut bei dir?", fragte Bennis Mutter, als sie ihm jetzt den Teller mit den Plätzchen entgegen hielt. Benni griff beherzt in den Haufen Gebäck und legte sich eine Handvoll von den besten Exemplaren auf den Schoß. Die Engelsaugen, die mochte er am liebsten.
„Benni, du ruinierst dir deine Hose", meinte Eva und zeigte mit großen Augen auf die Kekse, die seine Mutter jedes Jahr in Massen für ihn machte. Eva wusste ebenfalls, wie sehr er die liebte und backen konnte sie eigentlich auch. Nur tat sie das nie für ihn.
Benni schüttelte leicht den Kopf und gab ein genervtes Schnauben von sich.
Natürlich war es ihr nach ihrem kleinen Zusammenbruch einen Tag später schon wieder blendend gegangen.
Natürlich hatte er den Anschluss verpasst und sie immer noch nicht rausgeschmissen.
Natürlich saß sie jetzt mit ihm unterm Tannenbaum und fühlte sich ganz selbstverständlich als Teil seiner Familie.
Wie sollte sie auch etwas anderes denken, wenn Benni nicht endlich mal sein verdammtes, feiges Maul aufmachte?„Ja, alles gut", murmelte Benni seiner Mutter zu, die ihn noch immer erwartungsvoll ansah. „Was soll schon sein? Es ist immer alles gut bei mir."
„Na dann", erwiderte sie und reichte den nun deutlich leereren Teller weiter. „Wie geht es eigentlich mit deiner Musikgruppe voran?"
Benni holte Luft, doch Eva kam ihm wie so oft zuvor und berichtete seiner Mutter alles, von dem sie wusste, dass es in naher Zukunft bei Plan B auf dem Programm stand.
Benni war einfach nur müde von allem und protestierte daher nicht, weil sie für ihn sprach. Es war ihm alles zu anstrengend. Und das schon seit sehr langer Zeit.
Er seufzte und lehnte sich nach hinten an die weiche Lehne der gemütlichen Couch seiner Eltern und ließ Eva einfach erzählen. Zwar erzählte sie nicht alles hundertprozentig richtig, aber das war ihm jetzt auch egal. Sollte sie doch labern. Wer wusste schon, wie lange sie noch die Gelegenheit dazu hatte, seiner Mutter irgendetwas zu erzählen?
Benni grinste, und doch war der Grund dafür eigentlich keiner zum Lachen. Wahrscheinlich hätte Eva noch bis zum Rest ihrer aller Leben die Gelegenheit dazu, wenn er nicht endlich mal sein verdammtes, feiges Maul aufmachte.Der Abend schritt voran, und wenig später saß die ganze Verwandtschaft am reichlich gedeckten Tisch.
Es gab alles, was man sich an diesem Tage wünscht und davon nochmal das Doppelte. Vier Enten, drei Gänse, nochmal drei Braten, sowie Berge von Nudeln, Knödeln, Rotkraut, verschiedenen Salaten und noch vielem mehr.
Die lange, blankpolierte Tafel aus teuerstem Edelholz war vom Anfang bis zum Ende mit Platten und Schüsseln zugestellt und Benni bemerkte, wie ihm vor lauter Gier fast schon der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte.Seine Mutter hatte sich mal wieder die größte Mühe gegeben. Wobei, im Grunde genommen hatte sie bloß die Liste geschrieben und die Haushälterin dieses ganze Zeug kaufen und zubereiten lassen. Aber dennoch ließ sich Bennis Mutter von der ganzen Familie für das Essen in den Himmel loben, während Magda, die eigentliche Heldin dieses Abends, stumm die Saucenbehälter nachfüllte.
Als sie zu Benni kam, um dessen Weinglas aufzufüllen, lächelte der ihr zu und nickte anerkennend, in der Hoffnung, dass sie das stille Lob verstand.
Leicht verwirrt zog Magda mit der Weinflasche zu Bennis Vater weiter und warf ihm nochmal einen unsicheren Blick zu.
Man konnte es ihr nicht verübeln. Sonst, wenn Benni hier zu Gast war, hatte er nie den Eindruck vermittelt, überhaupt ein einziges Mal von ihrer Existenz Kenntnis genommen zu haben. Und jetzt lächelte er ihr einfach so zu.Während Benni ungewollt darüber nachdachte, dass Magda an Heiligabend vermutlich lieber wo anders wäre, als für Bennis Familie zu arbeiten, überlegte er zwangsläufig auch, was Irina wohl heute Abend aß. Er vermutete, dass es nichts besonderes war.
Ganz weit hinten im Kofferraum seines Audis lag bereits versteckt das Päckchen mit der Geige bereit, die er für sie bestellt hatte.
Später irgendwann wollte er die erstmögliche Gelegenheit nutzen und zu ihr fahren. Alleine die Vorstellung davon, wie sie wohl reagieren könnte, ließ seine Augen strahlen.
Wie genau er es anstellen sollte, dass er kurz ohne Eva verschwinden konnte, wusste er jetzt noch nicht, aber er war sich ziemlich sicher, dass ihm da etwas einfallen würde.
Vielleicht könnte er Irina dann auch etwas von dem Essen hier mitbringen, wenn er es erst einmal hier raus geschafft hatte. Es war ohnehin viel zu viel und man könnte damit wohl die halbe Straße eine Woche lang versorgen.Benni löste seinen Blick von Madga und sah in das Gesicht von Eva, die ihm direkt gegenüber saß. Ihre Gesichtsfarbe war irgendwie rötlicher, als vorhin. Er befürchtete, dass das nicht nur am Wein lag. Auch der spitze Absatz, der ihm unter dem Tisch in die Wade gehackt wurde, sprach dagegen.
Er griff nach der Fleischgabel und lud sich noch einmal ein riesiges Stück Rinderbraten auf den Teller, das er in Sauce ertränkte. Seelenruhig schnitt er sich ein Stück ab und kaute genüsslich, während er Eva einfach ignorierte.Er hatte Magda in Gedanken und ohne es zu wollen viel zu lange angesehen. Eva war garantiert der Meinung, er hätte sie in ihrem kurzen Kleidchen völlig notgeil angegafft.
Bennis Mutter schaufelte ihrem über alles geliebten Sohn noch einen Berg Nudeln auf, und er sah sie mit einem freudigen Lächeln an. Vielleicht könnte er Eva ja durch eine kleine Eifersuchtsszene für ein paar Stunden loswerden!
Wie man sich als stilechtes Arschloch zu verhalten hatte, wusste Benni auf jeden Fall besser, als die meisten anderen Menschen.
Warum war er bisher noch nicht auf die Idee gekommen, sich dieses Talent zu Nutze zu machen? Die ganze Zeit über hatte er alles getan, was Eva wollte und sich nicht quergestellt. Dabei könnte er doch einfach dafür sorgen, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte! Dann müsste er sich gar nicht erst die Frage stellen, ob er die Beziehung noch wollte, oder nicht.
Egal was sie dann tat, es könnte ihn doch ohnehin nicht mehr verletzen, wenn die Beziehung für ihn schon lange am Ende war. Für Benni klang das Ganze nach einem durchaus passablen Plan.Nach kurzem Überlegen, ob das nicht doch zu viel sei, stibitzte er noch einen Knödel von der Platte.
„Nachher ist dir wieder schlecht", knurrte Eva und blitzte ihn aus ihren giftgrünen Augen böse an.
Benni zuckte mit den Schultern und nahm sich noch ein Stück Fleisch nach.
„Das ist abartig, wie du immer frisst", zischte Eva und rammte die Gabel wütend in ihren Salat.
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Mädchen, mach die roten Lichter aus!
Ficción GeneralBenjamin Kerber ist ein reicher, verwöhnter Luxusproll, dem andere Menschen augenscheinlich nicht besonders am Herzen liegen. Doch eines Tages tritt über ungewöhnliche Umstände die Prostituierte Irina in sein Leben und verändert plötzlich alles. Cov...