Berlin, im Dezember 2013
„Na komm schon", flüsterte Benni fast schon zärtlich und schenkte Irina ein ehrliches, aufrichtiges Lächeln. Die Angesprochene stand noch immer mitten im Türrahmen und versuchte zu erfassen, was sich da gerade vor ihr zeigte.
Als sie nach einigen Sekunden noch immer nicht reagierte, nahm Benni sie sachte am Ellbogen und führte sie zu einem großen, weichen Sofa, das mit bordeauxrotem, mit goldenen Applikationen verziertem Samt überzogen war.
Irina ließ sich von Benni ein Stück nach hinten ziehen. Sie spürte die Kante des gemütlichen Sofas in den Kniekehlen und zusammen ließen sie sich in die himmlisch weichen Kissen sinken.Mitten im Hotelzimmer stand ein schätzungsweise drei Meter großer Tannenbaum, der so üppig mit glitzernden und funkelnden Weihnachtsdekorationen geschmückt war, dass er fast schon unter dem Gewicht dieser zusammenzubrechen schien. An der großen, makellos polierten Fensterfront des Zimmers stand ein langer Holztisch, der mit allerhand Essbarem voll gestellt worden war. Der Geruch dieses köstlichen Essens, sowie der Duft der Tanne und nach Weihnachten war so betörend, dass es einem fast schon den Atem raubte.
Die Beleuchtung im Zimmer war nicht besonders hell, sondern angenehm gedimmt und gemütlich. Neben einer Stehlampe in der hintersten Ecke sorgten fast ausschließlich große, rote Kerzen für das Licht.
Doch all dieser Zauber war gar nicht mal der wahre Grund, weswegen Irina in diesem Moment so überwältigt und unfähig zu sprechen war. Vor dem Weihnachtsbaum hatte sich ein Streichquartett, bestehend aus zwei Männern und zwei Frauen, positioniert und fing jetzt in diesem Moment zu spielen an.Bereits nach den ersten Tönen des Stückes (Bachs Chaconne, Parita No 2), spürte Irina, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Nach wenigen weiteren Sekunden tropften ihre Tränen auf ihren Schoß herunter und nach einer knappen Minute schluchzte sie haltlos und herzzereißend.
Benni, der mit einer solchen Reaktion niemals gerechnet hatte, warf ihr einen besorgten Blick zu, doch Irina winkte nur ab, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte Benni für einen kurzen Moment lang an, ehe sie abermals von einer weiteren Welle von Freude oder Schmerz, für einen außenstehenden Beobachter war es unmöglich zu deuten, erfasst wurde.Benni wusste nicht, warum Irina weinte. Sie hatte ihm auf dem Weihnachtsmarkt erzählt, dass sie Klassik liebte und Geige spielte, darum hatte er ein Streichquartett gebucht und dieses damit beauftragt, irgendwas auszusuchen und zu spielen. Was genau, konnte er nicht sagen, denn er kannte sich überhaupt nicht auf diesem Gebiet aus.
Ausgerechnet dieses Stück hier schien irgendwas in Irina zu berühren und zwar auf eine heftige Art und Weise, und Benni zerbrach sich fast den Kopf darüber, was dies nur sein konnte. Welche Erinnerungen verband Irina mit diesem Stück? Waren es gute oder schlechte und war es nun positiv oder negativ, dass sie an was auch immer erinnert wurde?
Sobald die Musiker fertig waren und er mit ihr alleine sein würde, wollte er Irina danach fragen.Er warf einen Blick zur Seite, erblickte Irina mit geschlossenen Augen neben sich und noch immer liefen die Tränen ihr hübsches, makelloses (beziehungsweise normalerweise makelloses; leichte Spuren von dem Angriff des aus der Kontrolle geratenen Freiers waren noch immer zu sehen, wenn man genau hinsah) Gesicht herunter, aber jetzt ordnete Benni den Ausdruck darin eher der Freude zu, er sah weniger Trauer oder Schmerz darin.
Er sah sie noch eine lange Zeit an, was sie zu bemerken schien, denn nun öffnete sie die Augen und erwiderte seinen Blick. Noch Jahre später würde Benni diesen Moment als den intensivsten Moment seines bisherigen Lebens bezeichnen.
Im Hintergrund musizierten die Streicher, deren Klänge ihn auf eine seltsame Art und Weise unbeschreiblich tief berührten, obwohl er ansonsten keinerlei Zugang zu klassischer Musik hatte. Minutenlang sah er direkt in Irinas strahlende Augen.
Und er sah dabei nicht nur ihre Augen, er sah so viel mehr, was dahinter im Verborgenen lag. Ihm war, als könnte er direkt in ihre Seele blicken. Er sah all das gute und außergewöhnliche, das sie ausmachte.
Er sah jedoch auch all den Schmerz und die Qualen, die sie durchmachen musste - in längst vergangenen Zeiten und auch jetzt noch in der Gegenwart - und trotz dessen sie noch immer auf dieser Welt war.
All das Leid und die Last, die unbestreitbar viel zu viel und viel zu groß für einen einzelnen Menschen zu tragen war. Und auch sah er den Kampfgeist, den Mut und den Lebenswillen, alle diese Eigenschaften, die sie die Hürden ihres noch so jungen Lebens meistern ließen, auf alles vorbereitet, ganz unerheblich wie hart es bisher gewesen ist und in der Zukunft noch werden würde.Und auch Irina sollte dieser kurze Moment für immer in Erinnerung bleiben. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass sie jemand nicht nur ansah, sondern sie wirklich und leibhaftig sehen konnte. Obwohl sich ihr Leben so deutlich von dem seinen unterschied, obwohl die beiden so gut wie nichts gemeinsam hatten und es von außen betrachtet keinen Sinn zu machen schien, hatte Irina in diesem Moment die absolute Klarheit, dass Benni sie wirklich verstehen konnte, wie es noch nie zuvor einem anderen Menschen möglich gewesen war.
Das Stück endete und der Moment war ebenso schnell wieder vorbei, wie er gekommen war. Die Musiker packten ihre Instrumente dezent und nahezu lautlos ein, wollten die Stimmung, die unsichtbar und doch so präsent im Raum schwebte, nicht zerstören und verließen wortlos das Zimmer.
Benni und Irina saßen stumm nebeneinander. Wie lange, das konnte später niemand genau sagen. Überwältigt und geplättet, jeder mit Gefühlen in sich, für die es keine Worte zu geben schien, verging Minute um Minute.
Benni hätte gerne etwas zu Irina gesagt und auch ihr ging es nicht anders, doch keinem der beiden wollte etwas einfallen, weil jedes existierende Wort zu klein war um das zu beschreiben, was gerade geschehen war. Nicht darüber zu sprechen und einfach ein normales Gespräch anzufangen war jetzt jedoch auch keine Option.Einige Sekunden oder vielleicht auch Stunden, die Zeit spielte im Moment keine Rolle mehr, wurden beide aus ihrer Trance erlöst, denn es klopfte an der Tür und Max, Hotelangestellter und alter Bekannter von Benni, öffnete diese kurz darauf.
„Alles in Ordnung?", fragte er vorsichtig und jetzt endlich waren Benni und Irina wieder in der realen Welt angekommen und konnten wieder normal reagieren.
„Klar", sagte Benni leise.
„Ich bin gleich wieder weg", flüsterte Max, dem die Stimmung, die er am ehesten als mystisch bezeichnen würde, auch nicht entgehen konnte, und schob den Rollwagen, mit dem er gekommen war, an den Tisch mit dem Essen und verteilte dampfendes Fleisch auf den Platten, die noch leer waren. Dann verzog er sich schnell wieder.„Das ist einfach unglaublich", sagte Irina und sprach somit zum ersten Mal, seit die beiden das Zimmer betreten hatten.
Benni schluckte und lächelte sie an, mit einer Schüchternheit, die Irina ihm niemals zugetraut hätte.
„Ähm, danke", erwiderte er, stand vorsichtig vom Sofa auf und machte ein paar Schritte Richtung Buffet. „Wir sollten vielleicht loslegen, bevor das hier alles kalt wird."
Irina zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, tupfte sich die letzten Tränen von den Wangen und ging zu Benni rüber, um den Tisch näher in Augenschein nehmen zu können.
„Oh mein Gott", flüsterte sie und wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen, geschweige denn anfangen zu essen sollte.
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Mädchen, mach die roten Lichter aus!
General FictionBenjamin Kerber ist ein reicher, verwöhnter Luxusproll, dem andere Menschen augenscheinlich nicht besonders am Herzen liegen. Doch eines Tages tritt über ungewöhnliche Umstände die Prostituierte Irina in sein Leben und verändert plötzlich alles. Cov...