Die Melancholie

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Berlin, im Januar 2016

Es hätte eigentlich ein ganz gewöhnlicher Samstagabend für ihn werden sollen.
Vor einer Stunde noch hatte er zuhause, ohne sich irgendwelche Gedanken über Wasserkosten zu machen, eine ganze Stunde lang unter seiner Luxus-Regenwalddusche gestanden, die den Wert eines Kleinwagens besaß. Im Anschluss hatte er, noch nackt, eine Line Kokain gezogen, um sich auf den Abend einzustimmen und dann den teuersten Anzug, den er besaß, angezogen. Nicht, weil es dafür heute einen bestimmten Anlass gab - nein, einfach nur so, weil er es sich eben leisten konnte. Dass es auch eine passende Rolex zu diesem Anzug gab, die er nur zu diesem trug, war für ihn eine Selbstverständlichkeit.

Als es später an der Zeit geworden war, sich auf den Weg zu den Jungs zu machen, folgte die zweite Line und als der Rausch etwas abgeebbt war, griff er nach den Schlüsseln seines sündhaft teuren R8. Noch vor ein paar Monaten war dieses Auto noch etwas Besonderes für ihn gewesen. Wie so oft war er mittlerweile jedoch schon viel zu sehr daran gewöhnt und er spürte nicht mehr dieses aufregende Kribbeln, wenn er sich hinein setzte. Eher langweilte es ihn und er überlegte schon seit längerer Zeit, sich einen neuen Wagen zu gönnen, der diesen für ihn nun nahezu uninteressanten Audi ablösen würde. Warum denn schließlich auch nicht?

Bereits zwanzig Minuten später wünschte er sich, er hätte den Kauf des neuen Autos schon hinter sich gebracht, denn nun stand er neben seinem Sportwagen auf der Straße und blickte auf die qualmende Motorhaube.
Der Pannendienst war schon unterwegs. Es wurde ihm gesagt, er müsse etwa eine dreiviertel Stunde auf Rettung warten. Er ärgerte sich furchtbar darüber. Er war es nicht gewohnt, auf irgendetwas warten zu müssen. Wo immer er auch hinging, war er entweder mit Türstehern oder Besitzern befreundet und ging an jeder Schlange vorbei. In Restaurants und Bars war er dank seiner unverschämt hohen Trinkgelder gut bekannt und wurde stets zuerst bedient.
Und dann sollte er eine dreiviertel Stunde seines kostbaren Lebens damit verschwenden, auf einen behinderten Pannendienst zu warten?

Er dachte zuerst für eine Sekunde daran, einfach den Wagen stehen zu lassen und die U-Bahn zu nehmen. Bei dieser Vorstellung musste er jedoch direkt lachen. Das letzte Mal U-Bahn gefahren war er mit vierzehn. So etwas Primitives wollte er sich nun wirklich nicht mehr anfangen.
Da dies also keine Option war und er auch nicht sinnlos in der Gegend herumstehen wollte, bis der Pannendienst sich endlich zu ihm hin bequemte, beschloss er, einfach ein wenig durch die Straßen zu laufen. Ein wenig Bewegung würde ihm sicher nicht schaden, denn er fand ohnehin, er sei in letzter Zeit etwas zu dick geworden.

So lief er also durch ein Viertel, in dem er schon lange nicht mehr zu Fuß unterwegs gewesen war. Zunächst wusste er auch gar nicht genau, wo er sich überhaupt befand. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief, ließ seinen Blick durch die Straße wandern und ging noch etwas weiter.
Die Gegend kam ihm jetzt sehr bekannt vor. Wenn er Recht behalten sollte, würde es um die nächste Ecke schon stehen. Dieses eine Haus, von dem er sich bis heute wünschte, er hätte es damals nie betreten. Und doch war er gleichzeitig froh, dass er es getan hatte.

Er hatte sich nicht getäuscht, denn einen Moment später stand er auch schon vor genau diesem Haus. Die Fassade war erneuert worden und nun nicht mehr so bröckelig wie damals vor rund vier Jahren, als er zum ersten Mal hier gewesen war. Auch die Eingangstür hatte offenbar einen neuen Anstrich bekommen. Sie war nicht mehr so knallig und ordinär rot, sondern wurde nun in einem unaufdringlicheren, leicht bronzenen Ton gehalten. Er hob den Kopf und sah an dem großen, sechsstöckigen Gebäude nach oben. Vieles hatte sich verändert, doch eine Sache nicht. Noch immer brannten in jedem der Fenster die gleichen roten Lichter und Herzen wie damals. Die Lichter, die die Männer anlocken sollten.

Da gab es nicht diesen einen, speziellen Typen von Mann, der ein solches Etablissement aufsuchte. Alle Berufsgruppen, alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten waren unter den Kunden vertreten, wie er selbst hatte beobachten können.
Es gab die Männer, die einfach nur ihre Lust und ihr Begehren ausleben wollten. Die, die einen Nervenkitzel, ein aufregendes Abenteuer im verruchten Rotlichtmilieu sahen. Hier erstreckte sich die Bandbreite von einfach nur schnellem Sex bis hin über ausgefallene Sexualpraktiken, die ihnen draußen nicht so leicht erfüllt werden konnten.
Dann gab es noch die Männer, denen es gar nicht so sehr um den Akt an sich ging. Diese suchten hier eher die Nähe, die Zärtlichkeit und Gespräche, weil sie das im echten Leben nicht hatten.
Außerdem gab es natürlich auch diese Sorte von Mann, die aus reinem Frauenhass ein Bordell besuchte. Der Typ Mann, der seinen Kick in der Hilflosigkeit und Abhängigkeit der Frauen sah und sich mächtig fühlte, weil er eben dieses ausnutze.

Er selbst wusste nicht, in welche Kategorie er sich einordnen sollte. Er war damals eigentlich ohne weitere sexuelle Absichten, sondern aus rein geschäftlichen Gründen in dieses Haus, das abgeleitet von seiner Hausnummer den simplen Namen „Haus 44" trug, gegangen. Rückblickend hatten ihn später dann wohl am ehesten die Neugier, sowie ein gewisses Maß an Frust in das Zimmer im dritten Stock geführt. Dort war er ihr dann begegnet.
Schon länger hatte er nicht mehr an sie denken müssen. Aber jetzt, in diesem Moment, wo er so unverhofft vor diesem Haus gelandet war, überfluteten ihn Erinnerungen, die ihm das Herz, das er so oft hinter seiner harten Fassade versteckte, schwer werden ließen.

Es hätte eigentlich ein ganz gewöhnlicher Samstagabend für ihn werden sollen. Stattdessen stand er jedoch zitternd hier und ließ sich für eine Weile melancholisch von seinen bittersüßen Erinnerungen wegschwemmen.

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt