Das Gedankenkarussell

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Berlin, im Dezember 2012

Zwei Tage vor Weihnachten hielt Benni es einfach nicht mehr aus.
Er hatte nach dem Gespräch mit Irina viel nachgedacht. So viel, dass sein Kopf nahezu dauerhaft dröhnte und er sich mittlerweile selbst gehörig auf die Nerven ging.
Sie hatte absolut recht. Er sollte sein Leben genießen und sich nicht unnötig von irgendetwas oder irgendjemandem unglücklich machen lassen. Und er musste jetzt endlich mal aktiv werden. So langsam schämte er sich schon vor sich selbst, weil er sich momentan verhielt, wie der letzte Waschlappen und einfach nicht in die Gänge kam.
Er wollte Eva nun definitiv verlassen. Egal, ob übermorgen Weihnachten war, oder nicht. Denn warum zur Hölle sollte es ihm noch wochenlang schlecht gehen, nur damit Eva sich gut fühlte?
Wie es ihm ging, war ihr doch auch recht egal. Warum sollte er auf sie Rücksicht nehmen, wenn sie es selbst nie umgekehrt tat?
Es war doch klar, dass ihre Beziehung ein Ende finden musste. Warum also noch länger warten und das Pflaster nicht mit einem Ruck abreißen, kurz und schmerzlos, statt es quälend langsam abzuziehen und Tag für Tag weiter ein unangenehmes Ziehen zu verspüren?



Benni war gerade auf der Postfiliale gewesen, um die bestellten Weihnachtsgeschenke abzuholen und lud diese nun alle in seinen Kofferraum. Momentan herrschten zweistellige Minustemperaturen, der Wind pfiff ihm um die Ohren. Sein Atem brannte schmerzhaft in der Lunge und er stand bis zu den Knöcheln im Schnee. Er konnte es kaum erwarten, den ganzen Kram nach Hause zu schaffen und ins Warme zu kommen.
Das Paket für Eva hielt er etwas länger in den Händen, bevor er es zu den anderen legte. Sollte er es wirklich durchziehen? So kurz vor Weihnachten? Musste das nun wirklich sein?
Eigentlich war sie ja kein böser Mensch und er glaubte nicht daran, dass sie ihn absichtlich nervte. Es war nun mal ihre Art und in diese hatte er sich damals verliebt. Doch war er zu dieser Zeit auch noch ein anderer Mensch gewesen.
Egoistisch, luxusversessen, rechthaberisch, rücksichtslos.
Zwar hatte er das heute nicht komplett abgelegt, aber er war sich eben über die Welt an sich, über all das, was es außerhalb seines Tellerrands gab, bewusster geworden. Eva lebte noch immer in ihrem kleinen, goldenen Käfig und umgab sich nur mit anderen Möchtegern-Schickimicki-Leuten, ohne jemals einen Gedanken an die Welt außerhalb zu verschwenden.
Aber so schlimm war sie doch nun auch nicht.

Benni warf den Karton endlich zu den anderen in den Kofferraum und stieg in seinen Audi.
Frustriert schlug er auf das Lenkrad ein. Gerade war er sich noch so sicher darüber gewesen, dass er Eva verlassen wollte. Warum zweifelte er jetzt schon wieder an seiner Entscheidung?

Sonst wusste er doch auch immer genau, was er wollte. Er traf eine Entscheidung und zog sie durch.
Wenn er sich über irgendetwas eine feste Meinung gebildet hatte, dann behielt er diese meist auch bei. Dabei war es ihm auch egal, wenn andere Personen eine andere Meinung hatten als er und diese sogar mit schlüssigeren Argumenten belegen konnten.
Er war sonst immer ein Fels gewesen, der dem stärksten Sturm standhielt.
Nun fühlte er sich eher, als sei er ein jämmerliches Fähnchen im Wind, das bei dem kleinsten Lufthauch die Richtung änderte.

Er war so wütend auf sich selbst. Von Tag zu Tag erkannte er sich selbst immer weniger.
Was hatte diese Frau nur aus ihm gemacht?
Er war sich nicht einmal sicher, welche Frau genau er mit dieser Frage, die er sich nun selbst stellte, meinte.
Meinte er damit Eva, weil sie eben so war, wie sie war und die Dinge mit ihm tat, die sie schon von Anfang an mit ihm gemacht hatte?
Oder meinte er damit Irina, die ihm erst vor Augen geführt hat, was für ein übler Mensch Eva wirklich war und dass es ganz und gar nicht okay war, was sie mit ihm abzog?

Bevor er Irina getroffen hatte, hatte Eva doch eigentlich recht gut zu ihm gepasst.
Die beiden waren Hand in Hand durch die Welt gezogen und hatten jedem frei Schnauze gesagt, was Sache war.
Sie waren Partner gewesen, die das Gleiche wollten und das Gleiche dachten.
Sie hatten es geliebt, den Reichtum, den sie hatten, zur Schau zu stellen.
Sie hatten sich gemeinsam im Glanz gesuhlt und die Bewunderung derer, die es nicht so gut hatten wie sie selbst, mit jeder Faser ihrer Körper genossen.
Es war ein herrliches Gefühl gewesen, es im Leben zu etwas gebracht zu haben und das für alle sichtbar wie ein blinkendes Schild in Neonfarbe vor der stolzgeschwellten Brust tragen zu können.
Es hatte sich gut angefühlt.
Hatte.
Vergangenheit.
Das war einmal.

Es könnte doch so einfach sein. Er könnte doch einfach die letzten Wochen aus seinem Gedächtnis herauslöschen und einfach weiterleben, wie zuvor. Warum konnte eine einfache Begegnung seine Gedanken und alles, was er fühlte, so verdrehen? Warum konnte ein einfaches Mädchen sein ganzes, bisheriges Leben aussehen lassen, wie einen mit Gold überzogenen Witz?

Benni fuhr auf den vereisten Straßen nach Hause. Immer wieder drifteten seine Gedanken ab zu den Fragen, auf die er keine Antworten finden konnte und er trat dann viel zu heftig aufs Gas. Nicht nur einmal verlor er fast die Kontrolle über seinen Wagen.
Er ging sogar so weit, dass er sich fragte, ob es wirklich so schlimm wäre, wenn er jetzt einen Unfall hätte. Ein, zwei Monate Koma und wenn er wieder aufwachte, würden sich seine Probleme vielleicht von alleine in Luft aufgelöst haben.
Eva hätte den nächsten Bonzenjungen gefunden, würde nicht auf der Straße sitzen und er hätte sich das unangenehme Schlussmachen erspart.

„Jetzt reiß dich doch mal zusammen, du gottverdammter Spast!", schrie er so laut er konnte durch den Innenraum des Audis. Wer war er denn, dass er Angst oder sonst was davor hatte, eine Beziehung zu beenden? Warum wünschte er sich selbst ins Koma, nur um einer Sache zu entgehen? Warum fand er einfach keine Antworten und drehte sich seit gefühlten Jahren nur noch im Kreis?

Im Grunde war es ja ganz einfach zu beantworten. Benni hatte nicht gelernt, Entscheidungen treffen zu müssen.
Er war bei reichen Eltern aufgewachsen und stets von Personal umgeben gewesen. Bis er dreizehn Jahre alt war, musste er sich am Morgen nicht einmal für seine Klamotten entscheiden, weil das Kindermädchen ihm diese schon auf den Sessel gelegt hatte.
Die Entscheidung darüber, was er frühstücken sollte, wurde ihm ebenfalls abgenommen. Man hatte seine Vorlieben gekannt und ihm immer etwas anderes auf seinen Platz gestellt, das er sich zwar nicht aussuchte, ihm aber garantiert schmeckte.
Solche Beispiele könnte er zu Hunderten nennen.

Natürlich war er nicht vollkommen unfähig, was das Fällen von Entscheidungen betraf. Er konnte für seine Band Plan B allerhand Entscheidungen treffen, ohne dass es ihm schwerfiel. Wenn er ein neues Auto wollte, brauchte er nicht lange, um sich eines auszusuchen. Er wusste, wohin er in den Urlaub fliegen wollte, in welchem Club er feiern wollte, welche Rolex als nächstes den Weg an sein Handgelenk finden sollte.

Das alles waren angenehme Entscheidungen. Plan B war seine zum Beruf gewordene Leidenschaft, die er niemals als Last empfand, auch wenn es mal komplizierter wurde, und auch die anderen Dinge, für die er sich entscheiden konnte, waren angenehme Dinge.

Eine Trennung gehörte nicht dazu. Benni konnte nur Entscheidungen treffen, die er treffen wollte. Wenn er eine Entscheidung treffen musste, die dann auch noch garantiert eine negative Konsequenz nach sich zog, so wie das mit Eva der Fall war, stand er vor einer Blockade, die er einfach nicht überwinden konnte.

Er lenkte seinen Wagen in die Tiefgarage, bepackte sich mit den ganzen Paketen und nahm den Aufzug nach oben zu seiner Dachgeschosswohnung.
Den ganzen verdammten Tag war er unterwegs gewesen. Eigentlich wollte er jetzt nur noch seine Ruhe haben. Aber trotzdem fällte er den Entschluss, Eva jetzt sofort rauszuschmeißen, wenn sie zuhause sein sollte.
Ihm war bewusst, dass er sich nie zu hundert Prozent sicher sein würde. Aber so weitermachen wie bisher konnte er auch nicht. Die Beziehung mit Eva machte ihn unglücklich, egal was er versuchte, sich anderes einzureden. Er war nur noch aus Bequemlichkeit mit ihr zusammen und er musste es jetzt tun, auch wenn es ihm noch so schwer fiel.
Jetzt oder nie.
Das ganze Nachdenken während der Fahrt hatte heftige Kopfschmerzen bei ihm ausgelöst und auch in seinem Magen war ein unangenehmer Druck zu spüren. Wenn er so weitermachen würde, bekäme er sicherlich noch weit vor seinem dreißigsten Geburtstag sein erstes Magengeschwür.
Nun war es soweit.
Er, Benjamin fucking Kerber, würde sich ganz bestimmt nicht von einer Tussi krank machen lassen!

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt