Die Unsicherheit

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Berlin, im Oktober 2012

Als Irina bemerkte, wie sich dieser Benni von seinem Barhocker erhob und betont lässig durch die Lounge schlenderte, spürte sie, wie ihr Herz immer schneller zu schlagen begann. Sie fragte sich, ob er sich vielleicht einfach nur mal den Raum genauer ansehen wollte. Eventuell würde er auch gleich zu den beiden anderen Mädels gehen, um mit einer oder beiden aufs Zimmer zu verschwinden. Oder aber - und das hoffte sie am wenigsten - er war gerade auf dem Weg zu ihr.
Dabei fand sie ihn nicht einmal besonders hässlich oder abstoßend. Was sie beunruhigte, war eher diese Arroganz in seinem Blick, die er kein bisschen zu verbergen versuchte.
Dass ein Freier besonders taktvoll oder mit einem großen Maß an Respekt mit „einer wie ihr" umging, war zwar sowieso nicht gerade an der Tagesordnung, aber Benni löste den dringenden Wunsch in ihr aus, jetzt einfach aufzustehen und sich irgendwo zu verstecken. Er würde sicherlich einiges für sein Geld verlangen und sie spüren lassen, wer hier dem anderen überlegen war.

Er hatte den Raum bereits zur Hälfte durchquert und sah ihr nun direkt in die Augen, sodass Irina keinen Zweifel mehr daran hatte, dass er sich gleich zu ihr setzen würde. Dass jetzt noch ein anderer Kunde kommen würde, um sie vor Bennis Augen wegzuschnappen, war mehr als unwahrscheinlich. Schon seit mehreren Stunden war hier schließlich keine Menschenseele mehr hineingekommen. Der einzige Kunde, der vorhin da war, war ein Bankangestellter, der immer spät nachmittags nach der Arbeit auf eine schnelle Nummer hereinschneite, um danach zum Abendessen zu seiner Familie zu fahren. Da die meisten Menschen Gewohnheitstiere sind, hatte er mittlerweile seine Stammhure, also schenkten die anderen Mädels ihm gar keine wirkliche Beachtung mehr, wenn er reinkam.
Irina selbst hatte heute Morgen lediglich wieder Besuch von der Schildkröte gehabt, also könnte sie wirklich noch einen Kunden gebrauchen, um wenigstens ihre Zimmermiete für den Tag zahlen zu können.

Sie spürte, wie sich die hölzerne Fensterbank, auf der sie gerade saß, um ein Minimum senkte und drehte ihren Kopf. Als sie in das Gesicht von dem prolligen Benni blickte, versuchte sie, einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu behalten und sich ihre Nervosität nicht ansehen zu lassen. Dann fiel ihr jedoch wieder ein, warum sie das alles machte und sie rang sich ein Lächeln ab. Es ging hier um sein Vergnügen, nicht um ihres. Ihre Aufgabe war es, ihm ein gutes Gefühl zu bescheren, nicht sich selbst.

„Hi", sagte Benni schlicht und einfach. Während er gerade auf sie zugelaufen war, hatte er sich alle möglichen Sätze zurecht gelegt, die er sagen wollte. Je näher er ihr gekommen war, umso unsicherer war er geworden, sodass er die letzten paar Schritte nur noch im Schneckentempo gegangen war. Und jetzt, als er so neben ihr saß, wusste er nicht mal mehr einen einzigen seiner Sätze.
Auf der anderen Seite, so fand er, brauchte sie ja sein Geld. Also könnte sie auch das Gespräch ins Rollen bringen. Das war sicherlich bei den anderen Männern nicht anders. Als er damals mit Lukas, Timi und Stefan hier gewesen war, hatte er beobachten können, dass sich die Mädels förmlich um die Männer gerissen hatten, die hier reingekommen waren. Er wunderte sich schon etwas, warum er überhaupt auf sie zugehen musste und sie nicht zu ihm an die Bar gekommen war, als er dort saß.

„Hallo", antwortete Irina und versuchte sich erneut an einem Lächeln, was ihr ihrer Meinung nach recht gut gelang. „Was führt dich hierher?"
„Ich bring Ronny sein Geld, für die drei Nut... ähm... Damen, die er uns für unsere Show bereitgestellt hat. Er ist aber noch irgendwie beschäftigt und... ähm... ja."
Ein kleines bisschen von der Anspannung, die Irina so gequält hatte, fiel von ihr ab, als Benni so vor ihr herum stotterte. Sie hatte eigentlich erwartet, dass er direkt eine Ansage machen würde, was er von ihr wollte. Aber dass er so unsicher vor sich hin stammeln würde, hätte sie als letztes gedacht.
Vielleicht war er ja doch nur ein Typ von der Sorte „große Klappe und nichts dahinter", aber sie wollte dennoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht über diese Brücke gehen.
Beim Gedanken an die paar Euro, die sie heute bisher lediglich verdient hatte und beim Anblick seiner glitzernden Rolex fasste sie wieder etwas Mut und rückte ein Stück an ihn heran.

„Und, willst du dir jetzt ein bisschen die Zeit vertreiben, bis Ronny Zeit für dich hat?", fragte sie Benni und biss sich betont sexy auf die Lippe. Er schluckte schwer und grinste dann leicht. Sollte er wirklich? Aber was war mit Eva, die jetzt in diesem Moment schmollend und menstruierend auf seiner Couch saß?
„Ich weiß nicht so genau", sagte er darum wahrheitsgemäß. Irina grinste ihn an und stand auf.
„Ich hol dir mal was zu trinken, in der Zeit überlegst du es dir."
Als er ihren Hintern sah, der von dem Kleid, das sie trug, nur zur Hälfte bedeckt wurde und beim Laufen ein wenig wippte, war die Sache für ihn eigentlich schon entschieden. Das hier war ja nicht wirklich fremdgehen. Er zahlte Geld dafür, also nahm er doch bloß eine Dienstleistung in Anspruch. Es war ja nicht so, dass er sich hier auf irgendeiner Party befand. Hier waren keine Freundinnen oder Bekannte von Eva, die ihr stecken würden, dass er mit einer anderen geschlafen hatte.
Wie sollte sie schon davon erfahren? Außerdem ging es hier nur um den Akt an sich. Das Mädel war bloß eine Nutte und wollte nur Geld dabei verdienen. Sonst wollte sie nichts weiter von ihm.
Er wollte das jetzt einmal ausprobieren und dann nie wieder herkommen. Er musste danach nur noch sein Geld bei Ronny abgeben und würde dieses Mädchen nie wieder sehen. Er würde danach einfach duschen gehen und so tun, als ob das nie passiert wäre.

Irina kam zu ihm zurück und drückte ihm einen Vodka auf Eis in die Hand. Er betrachtete skeptisch das kleine, filigran verzierte Glas und der alte Benni kam wieder zum Vorschein. „Was ist das für ne Marke?", fragte er. Wenn man ihm hier den billigsten Fusel andrehen wollte, war man wohl an der falschen Adresse.
„Grey Goose", antwortete sie freundlich lächelnd. „Für unsere Gäste nur das Beste."
Zufrieden stürzte er das Glas mit einem Mal herunter.
„Noch einen?", fragte sie und ließ sich wie selbstverständlich von ihm das leere Glas in die Hand drücken.
„Klar, auf einem Bein steht man ja schlecht", meinte er und warf ungeduldig einen Blick auf seine Uhr.
Er exte auch das nächste Glas, dass sie ihm brachte. Dann atmete er nochmal tief durch und beschloss, die Dinge jetzt langsam mal in Gang zu bringen. Ob es jedoch das richtige war, darüber war er sich ganz und gar nicht sicher.

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