Der Alltag

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Berlin, im Dezember 2012


Irina wachte am nächsten Morgen mit dem Kater ihres Lebens auf. Eigentlich trank sie gar keinen Alkohol. Der Geruch alleine erinnerte sie meistens an ihren Vater, der sich schwer krank gesoffen hatte, und sie musste dann daran denken, was der Alkohol aus diesem gesunden, freundlichen Mann gemacht hat, der er mal gewesen war.
Der Glühwein gestern hatte zwar nicht so ekelhaft gestunken, wie es der billige Schnaps ihres Vaters früher getan hatte, und der Abend mit Benni war sehr lustig gewesen, aber dennoch entschied sie sich dafür, dass sie das nächste Mal - wenn überhaupt - erst wieder in ein paar Monaten etwas trinken würde.
Sie hatte schon zu oft beobachten können, dass viele Huren sich in Alkohol und Drogen flüchteten, um das Grauen ihres Alltags ein wenig zu dämpfen. Irina wollte es gar nicht erst soweit kommen lassen, bevor sie die vermeintlich positiven Eigenschaften am Ende noch zu sehr zu schätzen lernen würde.
Das ganze Zimmer drehte sich, als sie aufstand, und ihr war mehr als nur ein bisschen übel. Doch obwohl es ihr nicht gerade prächtig ging, musste sie bei der Erinnerung an den vergangenen Abend lächeln.
Es war wirklich schön mit Benni gewesen. Sie hätte nie gedacht, dass sie so viele Gesprächsthemen finden würden. Sie hatte ihn vollkommen falsch eingeschätzt. Wenn sie heute daran dachte, was sie von ihm gehalten hatte, als er damals das erste Mal mit der ganzen Truppe im Bordell aufgekreuzt war, konnte sie nur noch darüber lachen.

Der wunderschöne Mantel, den Benni ihr gekauft hatte, hing über der Lehne des roten Plüschsessels, der in der Ecke ihres kleinen Zimmers stand. Irina setzte sich auf diesen Sessel und fuhr vorsichtig mit ihrer Hand über den himmlisch weichen Stoff des Mantels.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so schönes besessen. Sie stand wieder auf und packte den Mantel dann ganz weit nach hinten in ihren Schrank. Sie wollte auf keinen Fall, dass er irgendwie mit einem Kunden in Berührung kam.
Kunden...
Heute würde Irina wieder welche empfangen müssen. Zwei Tage Pause am Stück konnte sie sich wirklich nicht erlauben. Es hatte sie schon genug Überwindung gekostet, sich den vergangenen Tag freizunehmen.
Aber vielleicht würde sie sich ja dazu durchringen können, zukünftig einen Tag pro Woche nicht zu arbeiten. Andere Arbeitnehmer hatten schließlich auch das Wochenende, oder eben andere freie Tage unter der Woche.
Irina hatte zwar ein flaues Gefühl im Magen wenn sie daran dachte, wie viel Geld ihr gestern entgangen war, aber die freien Stunden hatten sich trotzdem ganz und gar nicht nach verschwendeter Zeit angefühlt.

Nachdem sie geduscht und einen Kaffee getrunken hatte, seufzte sie tief und machte sich auf den Weg nach unten in die Lobby, um sich neue Kundschaft anzulachen.
Viel los war heute nicht. Momentan schien eine kleine Flaute zu herrschen. Spätestens an den Feiertagen würde das Bordell jedoch wieder aus allen Nähten platzen. Dann, wenn die einsamen und verzweifelten Männer kamen, die niemanden hatten, mit dem sie Weihnachten verbringen konnten. Die, die für ein paar Scheine Wärme und ein offenes Ohr bei einem Mädchen erkauften. Oder harten Sex. Oder die Erfüllung ihrer perversesten Wünsche. Je nachdem, welchen Kunden das Mädchen eben bekam. Es war wie Roulette, nur dass es am Ende dieses Spiels doch nie wirklich einen wahren Gewinner gab.

Ein paar der anderen Huren saßen an der Bar und waren schon mit allen derzeit anwesenden Männern im Gespräch. Irina sah sich diese Männer genau an und war ziemlich froh darüber, dass sie jetzt erst nach unten gegangen war. Keinen dieser schmierigen Typen hätte sie bedienen wollen.

„Du siehst anders aus", sagte die Bardame Valerie, als sie Irina eine Cola vor die Nase stellte.
Irina nahm einen großen Schluck davon. „Wie meinst du?"
„Erholt. Irgendwie... zufrieden."
Irina grinste und beugte sich ein Stück nach vorne. „Ich habe gestern nicht gearbeitet", flüsterte sie. „Ich war in der Stadt und auf dem Weihnachtsmarkt. Dort habe ich jemanden getroffen. Er war nett."
Valerie grinste. „Ach ja? Wie nett war er denn?", fragte sie, hielt ihre Hand nach oben und rieb die Finger aneinander.
„Nein, nein. Er hat mir kein Geld gegeben! Er war wirklich nett!", sagte Irina. „Naja okay, er hat mir einen Mantel gekauft. Aber er wollte nichts dafür."
Valerie sah Irina skeptisch an. „Okay... komischer Typ. Pass auf - ich arbeite schon sehr lange hier und ich weiß, dass Kerle zu Mädchen wie euch nie einfach nur nett sind. Irgendwas will er von dir. Sei vorsichtig."
„So ist er nicht", protestierte Irina.
„Na, wer ist es denn? Hab ich ihn schon einmal hier gesehen?"
„Es ist Benni. Der Typ, der... naja... der mir das Geld auf den Boden geschmissen hat und dann abgehauen ist. Wir haben ihn im Restaurant gesehen, weißt du noch?"
Valerie lachte. „Und dieser Typ soll jetzt auf einmal nett sein? Da stimmt doch was nicht. Das sieht doch ein Blinder!"

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt